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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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Fleisch. Er hatte es zu eng geschnürt, aber in diesem Moment hieß er den Schmerz willkommen.
    Mit Matts Geld ließ sich noch weitaus mehr anfangen. Er brauchte nicht lange, bis er in einer Kneipe die Art Motorradfahrer fand, die er suchte. Zu jung, zu laut und viel zu angeberisch, um legal in den Besitz ihrer Maschinen gekommen zu sein.
    »Sie sind ein Bulle«, sagte der Erste, den er in seinem besten Louisiana-Slang ansprach, und machte eine abschätzige Handbewegung. »So was riech ich doch gleich.«
    »Ich bin der Kerl, der dir für deine geklaute Harley glatte zwei Riesen hinblättert«, entgegnete Neil ruhig.
    »Klar doch. Und ich bin Dubyas Lieblingsneffe«, gab der junge Mann patzig zurück, doch Neil wusste, dass er sich nicht täuschte. Eine halbe Stunde später war er im Besitz einer Harley. Während er das Nummernschild abschraubte und es durch ein anderes ersetzte, erinnerte er sich daran, wie einer seiner Vettern ihm das als ersten Schritt empfohlen hatte. Handel mit gestohlenen Fahrzeugen war ein einträglicher Zeitvertreib für Jugendliche in Louisiana. Owen war später entsetzt gewesen.
    Er hatte erst geplant, sich ein Auto zuzulegen. Aber mit einem Motorrad war er beweglicher. Vor allem entsprach es nicht dem, was erwartet wurde. Mit etwas Glück würden seine Verfolger davon ausgehen, dass er versuchte, sich nach Kanada oder nach Mexiko durchzuschlagen, auf alle Fälle über die Grenze, und es von dort aus noch einmal mit dem Internet probieren würde! Und sie würden nach einem vierzigjährigen Durchschnittsbürger Ausschau halten, nicht nach einem auf jung getrimmten Altrocker auf einem Motorrad. Ein schwaches Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Mit dem Helm wurde er noch anonymer. Sein frisch geschorener Schädel rieb sich an dem abgewetzten Leder. Ich bin noch nicht tot, dachte Neil. Ihr Mistkerle habt mir alles genommen, was ich hatte, aber ich bin noch nicht am Ende, und ich werde den Teufel tun und mich einfach von euch schlucken lassen.
    Viel war es nicht, das er mit sich nahm, als er Washington hinter sich ließ. Ein Foto von Ben und Julie. Matts Geld. Das Bild von Bens Grab, das sich in ihn gebrannt hatte, das Gefühl von Julies Tränen auf seinem Gesicht und das Versprechen, Beatrice wiederzusehen.
    Mit sehr viel mehr hatte er Louisiana einst nicht verlassen. Nein, das stimmte nicht. Damals hatte ihn die Hoffnung getragen, die Überzeugung, immer das Richtige zu tun, und die Gewissheit, die Welt erobern zu können. Das Gepäck der Jugend, das man irgendwann auf der Strecke verliert. Er wusste nicht, ob er es je wiederfinden konnte.
     
    Die Interstate 95 nach Süden flog in einem Gemisch aus Autos, Trucks, Grün und Asphalt an ihm vorbei, mit Tankstellen und Fast Food Restaurants, die einander ähnelten wie ein Ei dem anderen. Der Fahrtwind sorgte dafür, dass wenig Gedanken übrig blieben, nur das Gefühl von Kälte und Geschwindigkeit; im Grunde war er dankbar für die Betäubung. Bei den ersten Streifenwagen, die an ihm vorbeifuhren, musste er sich noch zusammennehmen, seine Geschwindigkeit kontrollieren, aber keiner hielt ihn an. Er hatte Richmond bereits hinter sich gelassen und war zur Interstate 85 gewechselt, als die Tankuhr Reserve signalisierte.
    Seine Knie waren steif, als er die Harley an der nächsten Tankstelle abstellte, um sie nachzufüllen, aber er versuchte, sich das nicht anmerken zu lassen. Er hatte sich längst eine Identität zurechtgelegt. Jim Brodie, auf der Rückreise in den Süden. Jim Brodie hatte noch nie von Neil LaHaye gehört, weil er so gut wie nie Nachrichten sah, und Zeitungen hatte er mindestens seit seiner Schulzeit nicht mehr gelesen. Jim Brodie hegte zwar das uramerikanische Misstrauen gegen zu viel Staatsgewalt, aber dem Rest der Welt misstraute er noch mehr. Der Rest der Welt bestand aus sinnlos daherschnatternden Ausländern, die kein Mensch verstehen konnte. Von der Pharmaindustrie wusste Jim Brodie ebenfalls nichts; er kannte höchstens die Markennamen von Kondomen. Jim hatte keine Kinder, jedenfalls keine, von denen er wusste; Jim hatte Freundinnen, aber keine Frauen, die er liebte. Jim war eingetragenes Mitglied bei der NRA, aber zu Wahlen ging er schon lange nicht mehr; das war ihm zu dumm, und außerdem hatte er die Wahlzettel nicht immer verstanden, damals, in jenen fernen Zeiten, als er sich noch die Mühe machte, zum Wahllokal zu marschieren. Jim wusste nicht, wie man Linguini buchstabierte und legte auch keinen Wert darauf, es zu

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