Götterdämmerung
Gesicht gepudert, nahm seine Bestellung auf. Nur an den dunklen Schweißflecken unter ihren Armen sah man, dass sie schon länger Dienst haben musste.
»Viel los heute, Charlene?«, erkundigte sich Neil mit schleppender Stimme, nachdem er das blaue Namensschildchen an ihrer Brust entziffert hatte.
»Kann man wohl sagen«, entgegnete sie mit professioneller Höflichkeit, aber Biker mit Irokesenschnitt waren wohl nicht ihr Fall; sie war nicht zu einem Geplauder aufgelegt. Zumindest nicht mit ihm. Neil entschied, dass Jim Brodie nicht merkte, wenn man ihn abblitzen ließ, und als Neil LaHaye war ihm die Reaktion der Kellnerin nur recht. Seine Aufmachung erzielte die gewünschte Wirkung, und das zählte. Er widmete sich den Nachrichten.
Die Baseball-Berichte wurden von einer Werbepause abgelöst, und Neil fragte sich, ob Jim Brodie der Typ war, der seinen Freundinnen Geräte zur Beinrasur schenkte oder vegetarische Pizzas mit Spielzeugbeilage aß, bis ihn ein Werbespot, der ihm vage bekannt vorkam, aus seinem erschöpften Amüsement riss. Ein kleines, blond gelocktes Mädchen, das aussah wie ein Rauschgoldengel, blickte in die Kamera, während ein Sprecher erklärte, dies sei Lisa, die unter der Addison’schen Krankheit leide, aber mit Hilfe von therapeutischem Klonen gerettet werden könnte.
»Gebt mir eine Chance«, piepste Lisa, und das Logo von Livion erschien im Hintergrund.
»Mann, so stabil ist die Theke auch wieder nicht«, sagte die Stimme der Kellnerin, und Neil stellte fest, dass sich seine Hand um das Holz des Tresens gekrallt hatte. Er löste seine Finger, und sie stellte den Kaffee vor ihn.
»Donuts gibt es keine mehr«, fuhr sie fort, »die sind aus, weil wir gerade eine Großbestellung laufen haben. Aber hey, wenn Sie was Süßes wollen, ein Stück Kirschkuchen ist noch da.«
»Aber immer«, erwiderte Neil mit Jim Brodies breitem Tonfall und zwang sich zu einem Grinsen.
»Vorsicht, der Kaffee ist noch…« begann sie, doch er hatte schon die Tasse in der Hand und trank, ehe sie enden konnte, »sehr heiß.«
Damit hatte sie Recht. Wenn schon keine Dusche mit kaltem Wasser da war - das taube Gefühl eines verbrannten Mundes brachte ihn auf der Stelle wieder zu sich. Charlene verschwand, und er blickte wieder auf den Flimmerkasten. Inzwischen waren die Nachrichten an der Reihe. Der Bildschirm, dessen Farbqualität zu wünschen übrig ließ, zeigte in schlierigen Bildern zwei Phantomzeichnungen, die so unbestimmt waren, als hätte ein Zeichenschüler sich zum ersten Mal daran versucht, während die sachliche Stimme der Sprecherin von einem gefährlichen, unter Terrorismusverdacht stehenden Paar aus Washington, D. C, berichtete, das noch immer nicht gefasst sei. Die Kameraeinstellung wechselte zu Interstate-Kontrollen und Helikoptern, während ein vor Ort interviewter Polizeibeamter bestätigte, die Fahndung laufe auf Hochtouren; man vermute das vermutlich bewaffnete Paar auf dem Weg nach Süden.
»Wie Bonnie und Clyde, Chief?«
»Es kann sein, dass sie sich inzwischen getrennt haben.«
»Wie läuft die Kooperation mit dem FBI? Da das Paar in North Carolina vermutet wird, ist die Bundespolizei doch zuständig.«
»Hier weiß jeder, was er zu tun hat.«
Neil hörte das Prusten einer Frau aus Richtung der Bar. Er drehte sich zur Theke um und stellte fest, dass die beiden Männer, die dort lehnten und wie er Kaffee tranken, Polizeiuniform trugen. Natürlich. Die Leute aus dem Streifenwagen vor der Kneipe. Die Müdigkeit musste ihm schon sehr zugesetzt haben, dass er sie jetzt erst wahrnahm. Das Auflachen war von Charlene gekommen.
»Na, das war ja das erste Mal«, sagte sie zu den beiden, »dass einer von euch weiß, was er zu tun hat.«
»Hey, heißt das, dass du uns nicht für die Besten der Besten hältst, Charlene?«, fragte der Jüngere der beiden und lehnte sich vor. Sein Kollege fügte in einem ähnlich neckenden Tonfall hinzu: »Und wir dachten, du lässt uns auf unsere Sandwiches warten, weil du uns so gern hier hast?«
»Ihr seid schon echte Augenweiden, ihr zwei«, gab sie kopfschüttelnd zurück. »Mensch, ihr habt mir schon die Donuts weggekauft, aber so viel Sandwiches, wie ihr bestellt habt, die müssen erst noch gemacht werden. Wie viel von euch sind eigentlich heute Nacht noch im Einsatz?«
»Zu viele«, erwiderte der Ältere mit einer leichten Grimasse. »Gott, das erinnert mich an meine Zeit in der Ausbildung.«
Charlene machte ein spöttisches Gesicht und stützte ihr Kinn
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