Götterdämmerung
etwas über Willy Loman und Tod eines Handlungsreisenden zu erzählen. Er war nicht hier, um sich in literarische Diskussionen zu verstricken.
»Und es hätte ja passieren können, nicht wahr?«, fragte Tevlin. »Ich meine, Fred war nicht irgendjemand. Er konnte sich wirklich gute Ärzte leisten.« Er schnitt eine Grimasse und versuchte wieder etwas leichtherziger zu sprechen. »Obwohl kaum einer von denen in einem Film als Retter besetzt worden wäre. Meine Güte, noch nicht einmal in einer Seifenoper. Ein ziemlich dröger Haufen. Ein George-Clooney-Ebenbild war nicht dabei, und einen zweiten Dr. Kimble habe ich damals auch nicht entdeckt. Der Unterschied zwischen Bildschirm und Realität ist manchmal schon hart. Wenn Sie mich fragen, ich halte es mit Blanche Dubois - bei der Wahl zwischen Realität und Magie ziehe ich Magie eindeutig vor. Der Einzige von dem Ärztehaufen, der so etwas wie Ausstrahlung besaß, war dieser kubanische Professor aus Miami, und der war nur kurze Zeit dabei.«
Neil horchte auf.
»Ein Kubaner?«
»Mr. Groß, Dunkelhaarig und Charismatisch, ja. Er hatte etwas, das weiß ich noch. Nicht eigentlich ein schöner Mann, obwohl es in meinem Beruf Leute gibt, die mit weniger zum Ziel gekommen sind als dem, was ihm Mutter Natur mitgegeben hatte. Ein Star sein, ist mehr eine Frage der inneren Überzeugung als des perfekten Aussehens, wissen Sie. Natürlich war er damals auch ein Star, in seinem Fachbereich. Fred hat mir erzählt, dass eine der Schwestern mal hereinkam und um ein Autogramm bat. Als Fred seinen Stift zückte, wurde sie knallrot und murmelte, dass sie eigentlich ein Autogramm des guten Doktors haben wollte. Können Sie sich vorstellen, was da los war?«
»Wissen Sie noch, wie er hieß?«
»Du meine Güte, ich habe genug damit zu tun, mir die Texte für die nächste Folge zu merken. Serien sind mörderisch. Sie kriegen ein Drehbuch und müssen es innerhalb einer Woche draufhaben. Und dann gibt’s noch dauernd Änderungen am Drehtag.«
»Was ist mit Telepromptern?«, fragte Neil, der genügend Schauspieler gekannt hatte, die sich erst gar nicht mehr die Mühe machten, den Text zu lernen, weil es die Möglichkeit gab, ihn bequem von einem Bildschirm abzulesen. Andrew Tevlin hob in gespielter Empörung die Hände.
»Niemals!… Also schön, gelegentlich. Aber man darf es nicht übertreiben, sonst fällt es den Zuschauern auf. Okay, was den Kubaner angeht… irgend so ein Durchschnittsname. Passte eigentlich gar nicht zu ihm. Ich hätte ihn Azurro oder sonst irgendwie unvergesslich genannt, wenn ich ihn hätte besetzen müssen, aber er hatte einen Namen, wie ihn immer die Schurken in drittklassigen Western tragen. Martinez, Gomez oder so ähnlich. Gamez.«
»Sanchez vielleicht?«
»Ja, ich glaube, Sanchez hieß er.«
In der Wohnung lag ein Geruch nach altem Schweiß, Alkohol und Kölnisch Wasser, der Neil an seine Großmutter erinnerte. Doch Mrs. Edgarson, die ihm die Tür geöffnet hatte und mit geröteten Augen wie eine Eule blinzelte, war in den Zeitungsberichten, die er in den Archiven gefunden hatte, stets als so ungebrochen und energisch beschrieben worden, dass er im ersten Moment glaubte, sich in der Tür geirrt zu haben.
»Der Journalist, nicht wahr?«, fragte sie lustlos. »Kommen Sie rein.«
Sie schlurfte vor ihm her in eine Wohnung, die mitten im März so abgedunkelt worden war, als müsse man die gleißende Sonne des Sommers fürchten. Alte Zeitungen lagen auf dem Boden; zwei Fernseher liefen im Hintergrund.
»Wenn der Zeitpunkt ungelegen ist, Mrs. Edgarson…«, begann Neil, obwohl er den Besuch noch kurz zuvor mit ihr vereinbart hatte. Am Telefon hatte sie lebhaft und interessiert gewirkt; nie hätte er sich diese Frau so alt und gebrochen vorgestellt, wie sie nun vor ihm stand.
»Eine passende Zeit gibt es jetzt nicht mehr, mein Junge«, sagte sie. »Nie mehr. Vorgestern hat Lon mich angerufen. Er hat es auch.«
Sie fing an zu weinen, achtlos, ohne sich die Mühe zu machen, es zu verbergen.
»Ich kann das nicht noch einmal durchmachen«, sagte sie. »Es war furchtbar damals mit Herb. Sie können sich nicht vorstellen, wie schlimm das ist. Das eigene Kind langsam sterben zu sehen.«
Neil, der den Tod seiner Mutter miterlebt hatte, sagte nichts.
»Aber ich war zwanzig Jahre jünger, und ich dachte die ganze Zeit, ich muss stark sein, da sein für Herb, ihm meine Stärke geben. Außerdem hatten wir ja immer noch Hoffnung. Es hätte doch sein können,
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