Götterdämmerung
nicht wahr? Sie hätten doch ein Mittel finden können. Ich meine, da war dieser Spanier, und dem sagten sie nach, er könnte Wunder wirken. Daran habe ich mich geklammert, das half mir. Ich hab mich immer daran geklammert, bis mein Herb seinen letzten Atemzug tat. Und dann war Lon für mich da. Lon und ich, wir beide haben uns über die schwere Zeit hinweggerettet. Und jetzt…«
Sie schluchzte, ein Geräusch, das sich in ihn fraß wie die Tränen in ihre ruinierte poröse Haut. Mit einem Mal fühlte er sich zutiefst beschämt. Für Mrs. Edgarson war das, was sie erzählte, keine abstrakte Story, es war ihr Leben, und er würde es nehmen und die Menschen damit schlimmstenfalls nur für fünf Minuten, bestenfalls für ein paar Stunden aufrütteln. Er würde ihr Leben und ihren Schmerz nehmen, wie er das Leben und das Leid von anderen Menschen schon früher genommen hatte, um daraus seine Pfeile zu formen, mit denen er eine immer monströsere und gleichgültigere Welt torpedieren konnte. Es war ein Verrat, ganz gleich, wie gut oder schlecht er seine Sache machen würde, so wie jede Umsetzung einen Verrat an der Realität darstellte. Und es war eine zutiefst ungenügende Antwort auf das, was Mrs. Edgarson hier und jetzt durchmachte, nicht später in einem Tanz aus Druckbuchstaben auf frischem Papier.
Er hätte ihr gerne ein Taschentuch gegeben, doch Neil hatte sich das Mitnehmen von Taschentüchern nie angewöhnen können. Deirdre zauberte sie bei Bedarf stets aus jenen Handtaschen, in die Frauen eine unglaubliche Anzahl an Kleinigkeiten stopften. Mrs. Edgarson zu sagen, es täte ihm Leid, wäre zu billig.
»Sie wissen doch«, sagte Neil unbeholfen, »es gibt jetzt wirksame Medikamente. Die den Verlauf der Krankheit verlangsamen. Sogar zum Stillstand bringen.«
Sie machte sich nicht einmal die Mühe, den Kopf zu schütteln. Ihre Tränen hörten nicht auf.
»Ja«, entgegnete sie. »AZT. Dideoxyinosin. Haben Sie eine Ahnung, was das kostet? Lon hat nie viel verdient, und ich habe damals Herbs Behandlung gezahlt, weil er selbst nie die Chance hatte, einen Beruf auszuüben. Unter 15.000 Dollar im Jahr läuft da nichts.«
»Ich wünschte«, sagte Neil und meinte es so, »ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen.«
Sie reagierte nicht. Jedes weitere bedauernde Wort wäre zu viel gewesen. Die tröstenden Phrasen blieben ihm ungesagt auf der Zunge liegen, wie Buchstaben eines unbekannten Alphabets, aus denen sich keine Brücke zu der Frau bauen ließ. Plötzlich schlug er alle Regeln über das Verhalten zwischen Fremden in den Wind und trat zu ihr. Vorsichtig legte er seine Arme um den knochigen, von Tränen geschüttelten Körper und roch wieder das Alter und die Hoffnungslosigkeit. Zu seiner Erleichterung ließ sie es geschehen. Er spürte ihre dünnen Hände auf seinem Rücken, spürte, wie sie sich in das Leder seiner Jacke krallten. Sie war deutlich kleiner als er; ihr Kopf drückte auf seine Brust. Er wusste nicht, wie lange sie so standen, aber es schien ihr zu helfen. Als sie sich von ihm löste, hatte sie zu weinen aufgehört und ihre Stimme wieder Kraft gefunden.
»Danke«, sagte sie.
Irgendwann verabschiedete er sich von ihr und hinterließ seine Visitenkarte. An der Tür drehte er sich noch einmal um. Ein Teil seiner selbst verabscheute sich dafür, aber der Teil, der Blut geleckt hatte, war mächtiger.
»Und Sie sind sicher, dass der Name des Arztes Sanchez war?«
Die MIT-Gebäude in Cambridge zogen sich mit der Einfallslosigkeit von pompösen Fabrikkomplexen durch die Stadt. Jedes Mal, wenn Neil das Massachusetts Institute of Technology sah, war er froh, nicht Naturwissenschaften studiert zu haben. Die Geisteswissenschaftler waren in einem Trakt aus einer merkwürdigen Kreuzung aus gotischem und viktorianischem Baustil untergebracht; ästhetisch war das erheblich ansprechender. Immerhin ließ sich an der Innengestaltung der meisten medizinischen Abteilungen nichts aussetzen; warme Pastelltöne, kein steriles Weiß, wie man es sich als Laie vorstellte.
»Du meine Güte«, sagte Dr. Giles trocken, »Sie schon wieder. Was verschafft mir die Ehre? Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Ihr Test HIV-negativ ist, so wie man es sich schöner nicht wünschen kann.«
»Kein Wunder, dass Sie in die Forschung gegangen sind, Doc. Ihr Umgang mit Patienten lässt zu wünschen übrig.«
»Sie sind kein Patient, Neil. Sie sind geradezu widerwärtig gesund«, entgegnete der Arzt, der mit seiner hageren, groß
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