Götterdämmerung
Statistiken angeschaut. Bei der Flut von Patenten, die für die Bekämpfung von AIDS eingereicht wurden, scheint es doch sehr verwunderlich, dass die Wissenschaft dieses Problem immer noch nicht in den Griff bekommen hat.«
Dr. Giles rieb sich die Nase.
»Sie müssen Patentanmeldungen in der Medizin verstehen. Da ist man lieber großzügig als zurückhaltend. Entwicklung kostet viel Geld. Ohne Patentschutz verlieren Pharmafirmen und Investoren das Interesse, neuartige Therapien zu entwickeln. Das ist für niemanden von Vorteil, am allerwenigsten für die Patienten. Wir werden hier auch staatlich finanziert, sicher, aber der Staat bringt nur einen Teil der Gelder auf. Wir brauchen Investoren, und wenn die Firmen nicht überzeugt sind, dass es eine hohe Wertschöpfung gibt, gibt es kein Geld. Deswegen wäre es eine fatale Fehlentscheidung, wenn man nicht jede nur mögliche Verbesserung patentieren lassen würde.«
»Hm. Aber im Fall AIDS sitzt doch die Mehrzahl der Kranken in der Dritten Welt und kann sich keine teuren geschützten Medikamente leisten, oder?«
»Das ist nicht mein Problem«, entgegnete Dr. Giles scharf, und Neil, der ahnte, dass er heute hier nicht weiterkommen würde, beschloss, das Thema zu wechseln.
»Kennen Sie einen Dr. Victor Sanchez? Er soll ja eine führende Kapazität auf Ihrem Gebiet sein.«
»Sanchez? Auf meinem Gebiet? Meinen Sie AIDS? Aber keineswegs. Sein Spezialgebiet liegt in der Genforschung. An Ihrer Stelle würde ich mich da auf eine Enttäuschung einrichten. Sanchez hat seit Jahren nicht mehr veröffentlicht, noch nicht mal, als die große Stammzellendebatte richtig losging, und das wäre eindeutig in sein Interessengebiet gefallen. Kein Auftritt bei Konferenzen, keine Publikationen, und ich kenne niemanden, der mit ihm korrespondiert.«
»Aber Sie wussten sofort, um wen es sich handelt«, stellte Neil fest.
»Klar wusste ich das. Machen Sie Witze? Victor Sanchez war einmal eine Legende. Na, vielleicht nicht für Sie und Ihresgleichen. Er hatte weder etwas mit Politik noch mit Literatur am Hut. Aber trotzdem wundert es mich, dass Sie seinen Hintergrund offenbar nicht kennen - die klassische amerikanische Einwanderergeschichte. Armer Junge kommt nach Amerika, lernt in Rekordgeschwindigkeit Englisch, und es stellt sich schon bald heraus, dass er ein naturwissenschaftliches Genie ist. Junge schafft Medizinstudium in Windeseile und erregt Aufsehen mit ersten Forschungen. Wir hatten ihn hier, wissen Sie? Erst zweiundzwanzig und ein Porträt in TIME. Er hätte jeden Lehrstuhl haben können, sowohl hier als auch in Stanford oder Berkeley. Eigentlich dachte jeder, die Geschichte würde auch auf klassische Art enden, mit dem Nobelpreis. Aber dann tauchte Sanchez irgendwann ab. Weg vom Fenster.«
»Wie kann so etwas passieren?«, fragte Neil fasziniert. Dr. Giles zuckte die Achseln.
»Wer weiß. Ehrlich gesagt, ich mag keine Wunderkinder. Für mich sind das Glasbläser. Sie fabrizieren in der Regel ein, zwei schöne und solide Kunstwerke aus reinstem Kristall und dann, unter dem Druck der Erwartungen, mehr und mehr bunte Kugeln, aber das sind dann nur noch Seifenblasen, und wenn sie Nägeln mit Köpfen machen sollen, dann versagen sie. Würde mich nicht wundern, wenn Sanchez einfach die Luft ausgegangen ist. Oder er hatte einen Nervenzusammenbruch. Auch das kommt vor.«
»Dann war er Ihrer Ansicht nach nicht wirklich ein Genie? Mehr Ruhm als Substanz?«
Giles schüttelte den Kopf. »Nein, die Substanz war schon da. Er hat es geschafft, Ersatzbauchspeicheldrüsenzellen in vitro zu züchten, das war auch der Grund für das TIME-Porträt.«
»Und das ist etwas Besonderes, weil…?«
Giles’ empörter Gesichtsausdruck wäre ein Foto wert gewesen.
»Okay«, sagte er und holte tief Luft, »stark vereinfacht ausgedrückt, ist es so etwas wie ein Stück vom heiligen Gral. Das Versagen oder der Verlust von bestimmten Bauchspeicheldrüsenzellen ist der Grund für Diabetes. Sagen Sie mal, wie kommt ein so ahnungsloser Ignorant wie Sie überhaupt auf Victor Sanchez?«
»Ich habe bisher fünf verschiedene Hinterbliebene der ersten bekannten AIDS-Toten interviewt. Drei davon«, erwiderte Neil, ohne beleidigt zu sein, und ließ Giles nicht aus den Augen, »nannten ihn mir als einen der behandelnden Ärzte.«
»Victor Sanchez?«, fragte Giles verblüfft. Dann glättete sich in seinem Gesicht etwas, als sei ein Bügeleisen über ein zerknittertes Handtuch gefahren. Er räusperte
Weitere Kostenlose Bücher