Götterdämmerung
vielleicht geholfen werden können. Zumindest hätte sein Leben verlängert werden können mit den neuen Medikamenten. Aber 1980 hatte ja noch niemand eine Ahnung.«
Ihre Stimme klang schneidend, als sie fortfuhr: »Dad wetterte jahrelang darüber, dass er für die falsche Behandlung Unsummen zahlen musste, außer natürlich an den Kubaner. Als ob das irgendetwas änderte. Aber so ist Dad nun mal. Es fiel ihm immer leichter, sich über finanzielle Verluste aufzuregen, als darüber, dass sein einziger Sohn mit fünfundzwanzig schon tot war. Ehrlich gesagt, mir taten die Ärzte Leid, denen er damit drei, vier Jahre später in den Ohren lag, als AIDS so richtig in die Schlagzeigen kam. Sie hatten ja wirklich nichts tun können. Dass es sich um ein neues Virus handelte - woher sollten sie das wissen?«
»Sie sind sehr verständnisvoll«, bemerkte Neil neutral. Dinah Strauss beschleunigte ihre Schritte etwas.
»Ach was. Ich habe nur selbst beruflich genügend am Hals, um zu wissen, wie man sich da fühlt. Wobei Dad noch Glück hatte. Der Kubaner behandelte außer Justin damals nur noch einen weiteren Patienten in New York, und die anderen Ärzte konnten es sich schlichtweg nicht leisten, keine Rechnungen zu stellen. Als er wegging und Justin wieder zurück an seinen Kollegen überwies, bekamen wir den Unterschied zu spüren.«
»Welcher Kubaner?«, fragte Neil. »Sie erwähnen ihn nun schon zum zweiten Mal.«
»Der fiel auf. Es mag ja nicht politisch korrekt sein, aber seien Sie ehrlich - auch heute noch denken wir bei einem Hispanic doch eher an mexikanische Hausmeister und kolumbianische Dienstmädchen und nicht an einen berühmten Spezialisten. Schon gar nicht an einen Wissenschaftler von der Klasse von Justins Arzt. Mit dem kam man in alle Krankenhäuser hinein. Der war noch jung, erst Ende zwanzig, aber damals schon berühmt, und ich kann mich erinnern, wie die Schwestern mir erzählten, was für ein Glück Justin hatte, dass Dr. Sanchez seinen Fall übernehmen wollte. Eine behauptete sogar, Dr. Sanchez hätte schon mal einen Patienten geheilt, der Symptome ganz wie mein Bruder hatte, obwohl sie mir keine Namen nennen konnte.«
»Dr. Sanchez?«
»Ja. Dr. Victor Sanchez, ich weiß es noch genau. Die anderen Ärzte in den Krankenhäusern sagten, er sei jemand, der garantiert irgendwann den Nobelpreis gewinnt. Natürlich waren wir begeistert, und als er das Wort ›kostenlos‹ aussprach, hätte mein Vater ihm beinahe die Füße geküsst. Aber als Mr. Zukünftiger Nobelpreisträger nach ein paar Monaten das Interesse verlor und ohne uns was zu erklären einfach verschwand, legte sich die Begeisterung schnell, das kann ich Ihnen sagen. Die Ärzte danach ließen Dad zwar kräftig zahlen, aber sie blieben wenigstens bis zuletzt bei Justin.«
In Santa Monica saß Neil einem Mann gegenüber, der Dinah Strauss in männlicher Form hätte sein können und wie sie kein Treffen bei sich zu Hause gewollt hatte. Im Unterschied zu Mrs. Strauss hatte sich Andrew Tevlin jedoch eines der Restaurants in der Third Street ausgesucht. Sie saßen auf dem Balkon im ersten Stock und blickten über die kleine Einkaufszone mit ihren Buchläden, Kinos und Bistros, die sich in bunter Vielfalt aneinander türmten. Neil, der nach dem Interview mit Mrs. Strauss und zwei weiteren Angehörigen früher AIDS-Toter in New York einen Nachtflug an die Westküste genommen hatte, spürte den Jetlag in allen Knochen, aber in der Wärme von Kalifornien, der Sonne, die sich in den orangefarbenen Ziegeln der Gebäude fing, der leichten Brise von der Küste, die etwas Salz mit sich brachte und den Wunsch in einem weckte, ans Meer zu gehen, war es nicht weiter schwer, hellwach zu sein.
»Ich wollte der Dinosaurier wegen hier essen«, sagte Andrew Tevlin mit einem gewinnenden Lächeln und wies auf die zu prähistorischen Tierfiguren gestutzten Hecken, die in der Mitte der Third Street unter ihnen standen. »Ich sehe sie nun mal für mein Leben gern.«
Er musterte Neil. »Sie bieten allerdings auch keinen so üblen Anblick. Vielleicht ist doch noch eine Einladung Chez Tevlin für Sie drin.«
Wieder ein Test, nicht anders als Mrs. Strauss’ Frage nach Ground Zero, aber auf einer ganz anderen Ebene.
»Ich werde jetzt nicht gequält lächeln und in den nächsten fünf Minuten Beweise meiner Heterosexualität in unser Gespräch einfließen lassen«, erwiderte Neil sachlich, »aber falls das als Prüfung gemeint war, um mich als heimlichen Schwulenhasser
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