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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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sich.
    »Wahrscheinlich haben die Leute da etwas verwechselt.«
     
    * * *
     
    Die Gänge des Labors waren ihr so vertraut wie die Linien in ihrer Hand. Blind hätte sie sich zurechtfinden können. Jeder Blick durch die Fenster war ihr vertraut; sie kannte alle Birken, die um den weiten Gebäudekomplex standen, zu allen Jahreszeiten. Sie hätte seitenlange Aufsätze über den Einfall des Lichtes auf jeden Baum schreiben können, über die Schattierungen des Schnees in den langen, langen Wintern. Sie kannte jedes Farbspektrum, von der bläulichen, kristallenen Helle bis zu der Mischung aus schmutzig gelb und braun Monate später.
    Sie hatte in den fünfundzwanzig Jahren ihres Lebens die Luft, die diese Blätter bewegte, nur selten ungefiltert geatmet. Und das nur in der Nacht, die ihren Aufenthalt im Freien begrenzte. Und die Sommernächte in Alaska waren endlos hell. Selbst das dämmrige Licht um ein Uhr morgens ließ sie um ihre Haut fürchten. Sie war dankbar für die unterirdischen Gänge, welche die Gebäude der Station miteinander verbanden und die von den anderen nur im Winter genutzt wurden; ihr gaben sie die Möglichkeit, sich immer sicher zu fühlen. Die Winternächte wiederum waren zu kalt, viel zu kalt, um länger als nur ein paar Minuten draußen zu bleiben, und sei es, um eine Aurora borealis zu bewundern.
    »Ich wünschte, das Labor wäre irgendwo in den unteren achtundvierzig«, sagte sie einmal zu ihrem Vater, den Ausdruck gebrauchend, mit dem die Bewohner Alaskas die übrigen Staaten der USA bezeichneten. »Warum nicht neunundvierzig?«, hatte sie als Kind den Mann gefragt, der ihr und ihrem Vater die Lebensmittel brachte. »Weil kein vernünftiger Mensch Hawaii dazuzählt«, hatte er geantwortet. »Das ist kein ehrlicher Staat, das ist eine Ansammlung von Touristenabzockstellen.«
    »Nimm Florida zum Beispiel«, sagte sie zu ihrem Vater. »Das ewige Dröhnen der Stromgeneratoren hier geht mir auf den Geist. In Florida wäre das bestimmt anders. Wärst du nicht gerne wieder daheim? Oder wenigstens in Kalifornien, wo so viele der anderen Labors sind.«
    Ihr Vater lächelte sie an und legte seine Hand auf ihre Schulter. Sie roch die Reste von Talkumpuder, die das ständige Tragen von Laborhandschuhen unweigerlich hinterließ.
    »Daheim ist für mich, wo du bist, Beatrice«, erwiderte er ernst. »Und für dich würde ein Umzug nichts ändern. Das weißt du doch.«
    Sie wusste es. Manchmal, wenn sie in den Spiegel blickte, spürte sie den Wunsch, ihre helle, viel zu helle Haut von ihrem Körper zu ziehen. Striemen aus ihr herausreißen, als Strafe für das Gefängnis, das ihre Haut war. Natürlich, es hätte schlimmer sein können. Sie besaß Pigmente; sie war nicht eine völlige Gefangene wie andere Fälle. Manchmal glaubte sie, dass sie ihre Aufenthaltszeiten in der Sonne steigern könnte, wenn sie es nur wollte. Aber jedes Mal, wenn sie es versuchte, kam sofort die Furcht zurück, die Furcht, deren flüsternde Stimme sie gehört hatte, seit sie denken konnte:
    Die Sonne wird dich verbrennen.
    Ein Satz, der ihr von ihren Eltern vehement eingetrichtert worden war, weil man nur so bei einem Kiemkind Erfolge erzielte und nicht, wenn man es komplizierter formulierte, etwa: »Du hast eine sehr, sehr empfindliche Haut, und die hohe UV-Strahlung draußen ist an sich schon gefährlich genug.« Aber das Wissen verringerte die instinktive Übelkeit nicht, die sich in ihrem Magen breit machte, kaum dass sie einmal die Laborgebäude oder die Wohntrakte verließ, in denen sie ihr ganzes Leben verbracht hatte. Einer der Hauslehrer ihrer Kindheit hatte eine Psychotherapie vorgeschlagen, aber ihr Vater empfand, wie viele seines Faches, nur Verachtung für die Psychoanalyse, der er den Namen »Wissenschaft« absprach, und hielt Menschen, die sich ihr anvertrauten, für Schwächlinge. Sie war seine Tochter.
    Im Übrigen war sie nicht unglücklich mit ihrem Leben. High School und College per Fernkurs zu absolvieren, bedeutete zwar, nie Freunde ihres eigenen Alters kennen zu lernen, doch was ihr das Fernsehen über High School und College berichtete, schien ihr erschreckend genug und ließ den Verlust nicht zu groß erscheinen. Für Beatrice gab es keine qualvollen Bemühungen, zu dieser oder jener »Clique« zu gehören, das »Richtige« zu tragen oder den »richtigen« Freund zu haben. Als Kind und als Teenager war sie das Maskottchen des Labors, und es gab niemanden, der ihr diese Aufmerksamkeit streitig machte.

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