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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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ist, und in seinen jüngeren Jahren hat Dr. Sanchez sein Möglichstes getan, um eine Person des öffentlichen Lebens zu werden.›
    Was für ein Unsinn, dachte sie und schrieb: ‹Was ist mit dir, Neil? Wenn du wirklich Neil LaHaye bist, dann hast du ebenfalls das Deine getan, um zu einer Person des öffentlichen Lebens zu werden. Würdest du dein Leben gerne dramatisiert sehen?›
    ‹Morgan, natürlich würde ich das. Ich fand schon immer, dass Liebesgrüße aus Los Alamos einen guten Film abgegeben hätte. Mit Tom Cruise als meine Wenigkeit und einer Menge Special Effects.›
    Wider Willen musste sie lachen. Zumindest hatte er Sinn für Humor.
    ‹Tom Cruise? Bist du so klein?›
    ‹Morgan, du hast Recht. Russel Crowe wäre besser, aber er müsste erst etwas abnehmen. Ich war ziemlich dünn in meinen Los-Alamos-Tagen. Lag an den zwanzig bis dreißig Zigaretten pro Tag. Inzwischen habe ich aufgehört und bin nunmehr Marlon-Brando-Material.›
    ‹Endstation-Sehnsucht-Brando, Pate-Brando oder Moreau-Brando?›, tippte Beatrice schnell, die mit alten Filmen besser vertraut war als die übrigen Chatteilnehmer.
    ‹Also, rollbar bin ich noch nicht… sagen wir, Letzter-Tango-Brando. Aber ich fürchte, aus meiner Filmkarriere wird nichts, wenn ich Victor Sanchez nicht aufstöbere. Es sei denn, jemand dreht Leben der meistgehassten Journalisten und Schriftsteller ›
    ‹Deswegen recherchierst du über Sanchez?›, fragte sie. ‹Um beliebt zu sein?›
    ‹Morgan, das Einzige, was schlimmer ist als üble Nachrede, ist gar keine. Aber ich recherchiere aus dem gleichen Grund, der mich bei allen meinen Themen bewegt. Ich suche die Wahrheit.›
    Sie setzte zu einer Antwort an, als die hauseigene Rufanlage brummte. Beatrice meldete sich und hörte die Stimme ihres Vaters.
    »Bea, ich brauche die Ergebnisse für die Frösche.«
    »Gleich.«
    ‹Tut mir Leid, Leute, ich muss gehen›, schrieb sie und loggte sich aus.
     
    Am Abend verbrachte sie zwei Stunden damit, nach ihrem Exemplar von Liebesgrüße aus Los Alamos zu suchen. Sie fand es zwischen ein paar Büchern, die sie seit dem College-Abschluss nicht mehr in die Hand genommen hatte. Auf der Rückseite waren die beiden Autoren abgebildet. Beide sehr jung; sie schaute nach dem Geburtsdatum auf dem Klappentext und stellte fest, dass Neil LaHaye damals nicht sehr viel älter gewesen war als sie jetzt, und Matthew Pryce genau gleich alt. Sie riet zunächst, wer von beiden wer war, bis sie im Klappentext die Zuordnung entdeckte. Neil LaHaye war der links auf dem Bild.
    Das Gesicht mit dem schulterlangen lockigen Haar wirkte zu knochig für ihren Geschmack, aber nicht unattraktiv. Er hatte tiefliegende dunkle Augen und einen breiten, zu einem amüsierten Lächeln verzogenen Mund. Sie versuchte ihn sich älter und etwas fülliger vorzustellen. Was, wenn der Chatteilnehmer einfach jemand gewesen war, der sich mit einem bekannten Namen interessant machen wollte? Und selbst wenn es sich um den echten Neil LaHaye gehandelt hatte, was änderte das?
    Sie schloss das Buch wieder und klappte diesmal die Vorderseite auf. Das Buch hatte zwei Widmungen: »Für Neil, die unerschöpfliche Nervensäge - M. P.« und »Für meine Mutter - N.L.«
    Wieder dachte sie an ihre eigene Mutter. Wie immer stand das Foto ihr im Weg, das Foto, das sowohl auf ihrem Regal als auch auf dem Schreibtisch ihres Vaters stand. Ihre eigenen Erinnerungen waren so unzuverlässig; sie konnte sich noch genau daran erinnern, wie es sich angefühlt hatte, ihre eigene kleine Hand in die ihrer Mutter zu legen, sie spürte noch die Wange ihrer Mutter auf der ihren, aber wenn es darum ging, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie sie ausgesehen hatte, endete sie immer wieder bei dem Foto, bei der gleichen lächelnden Aufnahme.
    Das ist alles, was Menschen für dich sind, dachte sie plötzlich, und die Bitterkeit, die in ihr aufstieg, überraschte sie. Fotos. Alles, was du je kennen lernen wirst vom Leben: Fotos.
    Nein. Sie hatte ihren Vater; sie hatte Freunde. Im Labor und überall in der Welt. Nur weil sie viele von ihnen nie gesehen hatte, waren sie nicht weniger wirklich. Auch sie hatte ein Leben. Nur weil nicht dieselben Voraussetzungen bestanden wie bei den meisten, war es nicht weniger wert.
    Das Buch lag immer noch in ihren Händen, und sie beschloss, es sich noch einmal vorzunehmen. Die Fakten, stellte sie, während sie auf ihrer Couch lag und die Füße mit einer Wolldecke umwickelt hatte, bald fest, waren ihr noch im

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