Götterdämmerung
Einige der anderen Wissenschaftler hatten zwar Familie, und ihr wurden Fotos von anderen Kindern gezeigt, doch solche Kinder lebten dann in Anchorage oder in den unteren achtundvierzig und waren nicht wirklicher als die Teenager aus dem »Frühstücksclub«. Ob Franks Tochter Ellie mit ihrer neuen Mathelehrerin besser zurechtkam oder Annette auf dem Disneykanal einen Freund fand, lief auf das Gleiche hinaus: Es waren nur Geschichten.
Gerade als sie alt genug war, um sich zu wünschen, Menschen kennen zu lernen, die ein von ihren Eltern und der Welt des Labors abgetrenntes Leben lebten, machte ihr die Technik ein Geschenk; Menschen, die sie mochten, nicht, weil es keine andere Wahl gab, sondern um ihrer Persönlichkeit willen. Der Fortschritt schenkte ihr das Internet.
Das Labor gehörte zu den ersten Einrichtungen Alaskas, die an das Netz angeschlossen wurden, noch lange vor der städtischen Verwaltung von Seward, der nächstgelegenen Stadt, die immerhin 3000 Einwohner zählte. Natürlich geschah das nicht, damit die Tochter des wichtigsten Wissenschaftlers das Internet als Spielzeug entdecken konnte, aber das war ein angenehmer Nebeneffekt. Sie fand Websites, die sie interessierten, sie trat E-Mail-Listen bei, sie hielt sich in Chaträumen auf und stellte fest, dass ihr Mangel an gesellschaftlicher Erfahrung keine Rolle spielte, wenn es darum ging, über Gedichte von Sylvia Plath zu diskutieren oder über die neueste Folge von Star Trek: The Next Generation. Im Übrigen steckte das Netz voller Leute, die exzentrisch genug waren, dass man ihnen Gehör und Zeit schenken wollte. Einmal nahm sie an einer Diskussion teil, bei der jemand steif und fest behauptete, der eigentliche Grund für die Golfkriege sei weder das Ölvorkommen von Kuwait oder Irak noch die Freiheit der betroffenen Völker gewesen, sondern der Zugang zu einer unterirdischen Anderswelt.
Dergleichen Debatten waren frivoler Zeitvertreib, das wusste Beatrice, aber ein notwendiges Gegengewicht zu ihren - wissenschaftlichen.
Der Computer war bereits vorher ihr bester Freund gewesen, und sie begriff sehr schnell, was er konnte oder besser können sollte. Sie war noch ein Kind gewesen, als ihr Vater und einige seiner Kollegen sie einbezogen, wenn es Probleme mit der EDV gab. Sie hatte Zeit, und aufgrund der Tätigkeit ihres Vaters entwickelte sie Systeme, wie man biologische Reaktionen in elektronische Signale und damit in für Computer lesbare Impulse umsetzen konnte, um die zeitraubende Routine der Analysen im Reagenzglas abzukürzen. Sie verschlang alles, was sie im Netz zu den neuesten Entwicklungen im Bereich der Mikroelektronik fand. Als sie schließlich eine Idee skizzierte, die für die Biochip-Entwicklung innerhalb der A. W Holding, zu der ihr Arbeitgeber Livion gehörte, den Durchbruch erzielte, hörte sie auf, ein Maskottchen zu sein, nur die »Tochter«, und wurde zu einer von den übrigen fast hundert Wissenschaftlern geschätzten Mitarbeiterin. Sie hatte ein eigenes Einkommen, das sie von ihrem Vater unabhängig machte. Sie war stolz auf ihre Leistungen.
Dennoch, manchmal schaute sie in den Spiegel, sah ihr ovales, zu helles Gesicht mit den großen Augen und dem sorglos zurückgesteckten Haar und fragte sich, ob das alles war. Dann wiederum fand sie sich albern. Mit sechzehn hatte sie für einen der Labortechniker geschwärmt, lange genug, um heimlich Gedichte an ihn zu schreiben und sein Foto in ihrem Zimmer zu verstecken. Bis ihr Vater, der ihre Verliebtheit entdeckt haben musste, verlegen, aber bestimmt offenbarte, was das Objekt ihrer Anbetung verbarg: Der Mann hatte nicht nur eine Freundin in Seward, sondern auch eine Ehefrau in den unteren achtundvierzig. Seiner Frau hatte er einen Brief geschrieben, in dem er sich über Beatrices »pubertäre Kuhaugen« lustig machte. Ihr Vater hielt ihr die Kopie vor die Nase, mehrfach geknickt und an einer Stelle eingerissen.
»Woher hast du das?«, hatte sie fassungslos gefragt und sich geweigert, an die Echtheit des Dokuments zu glauben.
»Bea, du weißt doch, dass unsere Korrespondenz hier ständig kontrolliert wird. Das muss so sein, wegen der Sicherheit.
Er weiß das auch; jeder Mitarbeiter muss seine schriftliche Einwilligung geben, ehe er hier anfängt. Er weiß das, und trotzdem…«
Es war das schnelle Ende von Beatrices erster Romanze, die ohnehin nur in ihrer Phantasie bestanden hatte. Seither beschränkten sich ihre Schwärmereien auf fiktive Helden; sie sagte sich, dass eine reale
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