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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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natürlich sein, dass ich mich irre. Wenigstens zwei Menschen, die ich kenne und als Wissenschaftler respektiere, sind hier anderer Meinung.«
    »Ist Sanchez einer davon?«, fragte Neil zurück, aber darauf erhielt er wieder keine Antwort. Zwei Tage vergingen bis zu ihrem nächsten Schreiben, bei dem sie auf andere Punkte zu sprechen kam, und in diesen Tagen wurde ihm bewusst, dass er ihre fast schon täglichen Mails vermissen würde, wenn sie einmal nicht mehr kämen. Es machte ihm Spaß, ihr zu schreiben, sogar mehr als Spaß. Ein wenig erinnerte es ihn an seine Unterhaltungen mit Matt, aber ohne die Tabuzonen, die eine gemeinsame Vergangenheit und unterschiedliche Lebenswege zwangsläufig mit sich brachten. Ein Eintauchen in einen anderen Geist. Einmal ertappte er sich sogar dabei, wie er ihr etwas von Deirdre erzählte.
    »Meine Kinder besuchen mich am nächsten Wochenende«, schrieb er, »und das heißt, dass ich mich vorher mit ihrer Mutter werde unterhalten müssen.«
    »Warum? Und ist das so schwierig?«, gab sie zurück.
    »Weil ich nicht möchte, dass es zu einem Streit kommt. Deirdre und ich haben uns darauf geeinigt, dass es Themen gibt, über die wir in Gegenwart der Kinder nicht sprechen, damit sie nicht das Gefühl haben, sich zwischen uns entscheiden zu müssen. (Bin selbst ein Scheidungskind.) Die meisten dieser Gespräche verlaufen dann relativ höflich.«
    Er zögerte. Dann, weil die geschriebene Sprache sein Medium war, weil er durch den Druck seiner Fingerspitzen Dinge ausdrücken konnte, die er ungern oder gar nicht aussprach, weil er es einmal sagen wollte und die Frau mit dem Pseudonym Morgan die einzige Person in seinem Umkreis war, die Deirdre nie sehen oder kennen lernen würde, setzte er hinzu: »Außerdem steigt früher oder später immer wieder der Wunsch in mir hoch, sie zu verletzen, und ich hasse mich dafür.«
    »Neil«, schrieb [email protected] zurück, und diese Mail ließ er nicht ausdrucken, sondern löschte sie sofort, »hast du sie je wirklich gehen lassen?«
     
    »Ich setze sie in den Zug«, sagte Deirdre und klang am Telefon erschöpft, aber nicht gereizt oder feindselig. »Mrs. Bamberg fährt ebenfalls nach Boston, um ihre Tochter zu besuchen, und hat versprochen, sie im Auge zu behalten. Natürlich würden sie lieber fliegen, aber du weißt, wie ich darüber denke.«
    »Ich weiß«, sagte er. Vor dem 11. September war Deirdre mit der größten Selbstverständlichkeit geflogen, aber danach tat sie es nur, weil ihr Beruf sie dazu zwang, und er hatte ein paar Mal erlebt, wie sie sich übergab, wenn sie erst wieder in der Sicherheit ihres Hauses war. Bei der Vorstellung, ihre Kinder fliegen zu lassen, brach ihr immer noch der kalte Schweiß aus. Er fand es übertrieben, aber das war ein Punkt, über den er nie mit ihr gestritten hätte. Deirdre zahlte einen Preis für ihre immer freundliche, immer nervenstarke und immer zuverlässige Fassade, die sie in ihrem Beruf nie aufgab. Sogar damals nicht, als ihr Büro auf Anthrax-Spuren untersucht und sie selbst mit den übrigen Stabsangestellten und Senator Cunningham unter Quarantäne gestellt worden war, damals, als sie die hysterischen Angestellten um sie herum und die aufgeregten Kinder am Telefon beruhigte. Die Schattenseite dieser Stärke lag in den Ängsten, die sie manchmal nächtelang wach hielten.
    »Sie werden versuchen, dich dazu zu kriegen, dass du ihnen einen Flug schenkst, damit ich es erlaube.«
    »Keine Sorge«, erwiderte Neil und stellte erleichtert fest, dass er es auch so meinte. Nichts in ihm war versucht, Deirdre durch zwei Flugtickets und eine Salve von »aber Dad hat…« in Schwierigkeiten zu bringen. »Daddy bleibt standhaft.«
    »Danke«, sagte Deirdre. »Arbeitest du gerade an etwas?«
    Es war eine rein sachliche Frage, und er wusste, warum sie gestellt wurde. Trotzdem zögerte er, denn ihm war gerade eine Idee gekommen.
    »AIDS«, sagte er schließlich. »Forschung und Hintergrund. Sag mal, Deirdre, die Kinder sind doch schon aufgeklärt, oder?«
    »Wenn du je mit mir zu einem Elternabend gegangen wärst«, sagte Deirdre, immer noch mehr erschöpft als unwillig, »dann wüsstest du, dass in dieser Schule jede Menge Aufklärungsplakate hängen. Du meine Güte, dieser Tage sind sogar Comics mit entsprechenden Seiten ausgestattet. Aber das heißt nicht, dass du ihnen unbedingt Fotos von Patienten im letzten Stadium oder dergleichen zeigen musst. Julie hat jetzt noch Albträume von denen in Liebesgrüße

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