Götterdämmerung
aus Los Alamos.«.
Julie war mitten in der Scheidung ihrer Eltern auf den unglücklichen Einfall gekommen, das berühmteste Buch ihres Vaters lesen zu wollen, und weil sie schon mit dem Text der Einleitung und seinen vielen Abkürzungen und Fremdworten nichts anfangen konnte, hatte sie sich auf die Illustrationen beschränkt.
»Keine Fotos«, sagte Neil und setzte so beiläufig wie möglich hinzu: »Sag mal, Deirdre, wenn der Erhabene einmal nicht übereifrigen Geheimdienstlern auf die Finger klopft, sitzt er dann nicht auch in irgendeinem Ausschuss der Food & Drug Control?«
Sie kannte ihn nur zu gut. »Warum?«, fragte sie misstrauisch zurück.
»Beruhig dich, ich habe nichts Übles mit deinem Senator im Sinn. Ich wollte nur wissen, ob du die Lobbyisten kennst, die für Livion arbeiten. Und bevor du weiter fragst, mich interessiert Livion nur, weil sie AZT vertreiben.«
Eine kleine Pause entstand. Er konnte sich vorstellen, wie Deirdre sich in ihrem Bürostuhl zurücklehnte und mit der Hand, die kein Telefon hielt, auf dem Tisch trommelte. Was er wissen wollte, war keine vertrauliche Auskunft, aber sie fragte sich zweifellos, ob er ihr wirklich die Wahrheit über den Grund seiner Frage gesagt hatte.
»Sheldon & St. Pierre«, entgegnete sie schließlich.
Er pfiff durch die Zähne. Lobbyisten gab es in Washington wie Sand am Meer, aber die Namen der einflussreicheren Firmen, die es sich leisten konnten, Stabschefinnen wie Deirdre nicht nur zum Essen einzuladen, sondern auch gelegentlich Karten für die Met übrig hatten, statt nur zu versuchen den Senator im Kapitol abzupassen oder sein Büro zu belagern, kannte er zum größten Teil noch auswendig.
»Die 800-Dollar-pro-Stunde-Leute, nicht wahr?«
»Genau die. Livion ist natürlich nur einer ihrer Klienten. Sie sind gut. Es war ihre Idee, Armstrong nach der Anthrax-Geschichte damals kostenlos Antibiotika an alle Senats- und Kongressmitglieder und ihre Angestellten austeilen zu lassen. Ein brillanter Publicity-Coup«, schloss Deirdre mit der Bewunderung eines PR-Profis.
»Wer ist der Repräsentant, mit dem du zu tun hast?«
»Clive Forsythe«, antwortete sie. »Ein Aufrichtiger.«
Neil, der sich an die drei Grundkategorien erinnerte, in die seine Exfrau Lobbyisten einzusortieren pflegte - Aufrichtige Bibelverkäufer, Charmante Seifenvertreter und Verhinderte Vorstandsmitglieder - , lachte.
»Du kannst mir nicht zufällig die Telefonnummer und seine E-Mail-Adresse geben?«
»Ich könnte schon. Die Frage ist, ob ich es tun sollte. Was hast du vor, Neil?«
»Recherche. Nur ein wenig Recherche. Komm schon, Deirdre, wenn der Kerl nicht wollte, dass man ihn erreichen kann, dann würde er nicht als Lobbyist arbeiten. Du ersparst mir nur zwei Stunden in der telefonischen Warteschleife, Stunden, die ich stattdessen damit verbringen kann, Süßigkeiten für Ben und Julie zu kaufen, damit sie sich den Magen verderben.«
Er wusste, dass er sie zum Lächeln gebracht hatte; obwohl er sie nicht sehen konnte, wusste er es durch die vielen Jahren, die sie gemeinsam verbracht hatten, und durch das kurze, rasche Prusten, das durch das Telefon drang, ehe sie es ersticken konnte.
»Du willst mich einseifen. Glaub nicht, dass ich das nicht merke. Aber schön, du bekommst deine Nummer. Oh, und Neil?«
»Ja?«, fragte er, während ihm bewusst wurde, dass er dieses Gespräch hinter sich gebracht hatte, ohne der Versuchung zu Sticheleien nachzugeben.
»Die Bank hat mich angerufen. Deine alten Kreditkarten sind gefunden worden. Da wir sie rasch genug haben sperren lassen, spielt es im Grunde keine Rolle, aber sie wollten mich wohl höflichkeitshalber informieren. Würde es dich überraschen zu hören, dass der Obdachlose, der sie hatte, schwört, dass sie ihm von einem, wie drückte er sich aus, ›blonden Flittchen mit einem Hintern wie dem von Jennifer Lopez‹ geschenkt wurden?«
»Nein«, sagte Neil so ausdruckslos wie möglich.
»Du bist wirklich ein Idiot«, sagte sie und gab ihm Forsythes Nummer.
»Clive?«, begann er und gab seiner Stimme eine Mischung aus professioneller Freundlichkeit und leichter Ungeduld. »Hier ist Matt Pryce. Ich will ja nicht drängen, aber ich warte immer noch auf die Unterlagen.«
Forsythe benutzte garantiert ein Telefon mit Nummernerkennung, aber Neil rief von seinem Handy aus an, und das war auf anonym geschaltet. Er hatte flüchtig erwogen, seinen eigenen Namen zu nennen, doch wenn Forsythe seine 800 Dollar pro Stunde wert war, die
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