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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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mochte, Konstellationen wie diese regten seine Phantasie an. Die Elektronenmikroskopaufnahme fand er auf merkwürdige Weise ästhetisch ansprechend; die künstlichen Farben machten das Bild plastischer. Goldumrandete kugelförmige Gebilde vor dunkelblauem Untergrund, auf dem sich länglich rote dreieckige Gebilde abhoben. Irgendwie erinnerten sie ihn an die Heiligen-Medaillons oder die Santeria-Figuren, die er in Miami gesehen hatte. Unsere Liebe Frau von der Tödlichen Immunschwäche. Begleitet von ein paar grünlichen Igeln, die auf widersinnige Weise wie Weihnachtskugeln aussahen.
    »Bevor diese Sache vorbei ist«, sagte er halblaut zu sich selbst, »wirst du nur noch von T4-Helferzellen, gp 120-Proteinen und CD4-Molekülen sprechen, also genieß die Ikonographie, solange du sie siehst.«
    Das Virus bildete die Spitze des Dreiecks. Rechts von ihr hing James T. Armstrong, Besitzer der Aktienmehrheit der A. W Holding, CEO bei Livion und, wie kein Artikel, der je über ihn geschrieben wurde, zu erwähnen vergaß, einer der reichsten Männer der Welt. Armstrong hatte etwas Chamäleonartiges an sich; im Smoking bei der Gala, wo er den Gastgeber gespielt hatte, sah er wie ein Mitglied der Ostküstenaristokratie aus, aber das Image, mit dem die Öffentlichkeit wesentlich vertrauter war, das Bild, das einen auf den Websites von A.W und Livion empfing, war das vom raubeinigen Armstrong mit Stetson auf dem Kopf und Jeansjacke um die Schultern. Der Cowboy-Hut verbreiterte seine leutseligen Gesichtszüge, die auf dem Foto im Smoking so länglich wie die von Prinz Charles wirkten, und verlieh ihnen etwas Gemütliches.
    Ein Mann aus dem Volk, hieß es in seiner offiziellen Biographie bei www.livion.com, aber auch ein Präsident unter Präsidenten: Mr. President.
    Der junge Victor Sanchez dagegen war von TIME weder als Mann aus dem Volk noch als Mitglied der oberen Zehntausend porträtiert worden. Das Foto zeigte ihn im Dreiviertelprofil, den Kopf leicht zur Seite gedreht, einer Frau zugewandt, deren Gesicht im Hintergrund verschwand. Er lächelte ihr zu, und das weiße Hemd, das er trug, ließ sein dunkles Haar, in dem sich die Sonne fing, fast bläulich wirken. Darunter die Zeile:
    Victor Sanchez: Die Zukunft gehört uns.
    Neil hatte beschämend lange gebraucht, bis ihm einfiel, woran ihn dieses Bild und die Unterschrift erinnerte. Er hatte gesehen, wie ein sehr ähnliches Konterfei sorgfältig von Deirdre aus dem gleichen Magazin ausgeschnitten und in das Fotoalbum eingeklebt worden war, das sie immer noch für Julie und Ben aufbewahrte. Neil LaHaye, Matthew Pryce, Gewinner des Pulitzer-Preises: Die Zukunft gehört uns.
    Der Verdacht, etwas mit Victor Sanchez gemeinsam zu haben, der Argwohn, dass er sich deswegen so auf Sanchez konzentrierte, war ihm schon früher gekommen, und er schüttelte ihn jedes Mal ab wie ein Hund das Regenwasser von seinem Fell. Er hatte sich nie zurückgezogen. Es war eine Sache, in Harvard zu dozieren, obwohl er nie Lehrer hatte werden wollen. Aber er hatte nie mehr als nur eine zeitweilige Pause im Sinn gehabt, eine Art universitäres Freisemester in seinem neuen Leben. Und hatte er sich nicht wieder gefangen? Ging er nicht wieder einem wichtigen Thema nach?
    Überdies war ihr Hintergrund ein völlig anderer. Bei allem unbescheidenen Stolz auf seine Fähigkeiten wäre es Neil nie in den Sinn gekommen, sich als Genie zu bezeichnen, noch hatte ihn in seiner Jugend je jemand für ein Wunderkind gehalten. »Zäher kleiner Bastard«, war die Beschreibung, die er damals zu hören bekam. Er schaute sich das Bild des jungen Forschers an und fragte sich, ob Sanchez je diesen Hunger gekannt hatte, den Wunsch, es Ihnen zu zeigen, jenem undefinierbaren Konglomerat aus Lehrern, Verwandten, Vätern. Der Macht im Hintergrund. Der anonymen Ansammlung an Genehmigungen und Unterschriften der Atomenergiekommission, die wider besseres Wissen eine lange Kette an mörderischen Tests in der Atmosphäre ermöglichten, die seine Mutter das Leben gekostet hatten.
    Dumme Frage. Sanchez war ein Einwanderer und gehörte zu einer Gruppe, von der man zu dem Zeitpunkt, als das Foto gemacht worden war, zwar Wählerstimmen und nützliche Dienstleistungen erwartet hatte, aber keine Wissenschaftler. Natürlich musste Sanchez diesen Hunger gekannt haben. Und deswegen hatte er sich in ein Mädchen verliebt, das die Träume jedes Jungen aus der Provinz verkörperte, ein goldenes Geschöpf aus der Großstadt, witzig, ehrgeizig, die

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