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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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erneut klingelte.
    »Beatrice«, sagte Neil LaHaye, »kann es sein, dass euer Labor in der Nähe von Seward liegt?«
    »Vielleicht«, gab sie zurück und fragte sich plötzlich, ob Mears den Sicherheitsdienst angewiesen hatte, auch ihr Funktelefon zu überwachen. Offiziell wurden nur hin und wieder Stichproben an den laboreigenen Festnetzanschlüssen gemacht, doch wenn Warren Mears ihr tatsächlich etwas nachweisen konnte, dann hatte er ein Ass im Ärmel, um eine noch stärkere Überwachung zu rechtfertigen. Dazu hätte er eine offizielle Anzeige machen müssen, und eben dies hatte er, wie sein Besuch demonstrierte, bisher nicht getan.
    »Du hast vielleicht schon gehört, dass dein Vater und ich nicht gerade Brüderschaft geschlossen haben«, sagte Neil und fügte nach einem kleinen Zögern hinzu, »aber ich würde dich gerne sehen, bevor ich das gastliche Alaska wieder verlasse. Lässt sich das machen?«
    Sie hatte mit dieser Bitte gerechnet, früher oder später; es traf sie mit einer Mischung aus Freude und Bitterkeit. Mehr als alles andere wünschte sie sich plötzlich, normal zu sein und die Freiheit der Normalen zu haben.
    »Ich… kann den Laborkomplex nicht verlassen, solange es hell ist«, entgegnete sie und bereitete sich darauf vor, Formen der Lichtallergie erklären zu müssen, von nun an das Mitleid für eine Laune der Natur in seiner Stimme zu hören und in seinen Mails zu lesen.
    »Trifft sich gut. Vor dem Abend bin ich bestimmt nicht dort. Ich rufe dich an, wenn ich in der Nähe bin.«
    »Neil«, sagte Beatrice und gestattete sich nicht, erleichtert zu sein, weil es ohnehin nur ein Aufschub war, »wir haben zwar noch keine weißen Nächte, aber die Sonne geht mittlerweile bereits sehr spät unter. Verstehst du… ich kann nicht vor Sonnenuntergang nach draußen.«
    Er machte keinen Scherz über Vampire. Er fragte sie nicht, ob das nur ein Vorwand sei. Er bat sie nicht um Erläuterungen. Stattdessen hörte sie seine Stimme sachlich, mit nur einem Hauch von Belustigung, durch die leichte Verzerrung ihres Gerätes.
    »Ich kann warten.«
     
    * * *
     
    Einem Lieferwagen am Samstagnachmittag von Anchorage aus zu folgen, war nicht weiter schwer. Nach seinem Abschied von Victor Sanchez hatte Neil gar nicht erst den Versuch unternommen, sich an seine Spur zu heften. Auf so eine plumpe Aktion war Sanchez gewiss vorbereitet, er fuhr unter Garantie nicht geradewegs zu seinem Labor zurück.
    Die Livion-Niederlassung in Anchorage dagegen ahnte nichts. Er war sich bewusst, dass der Kurs, den er einschlug, bedenklich war. Es mochte verdächtig sein, einen Laborkomplex in Alaska zu bauen, aber illegal war es bestimmt nicht, und wenn Livion dort, wie er vermutete, auch für Regierungsprojekte Experimente durchführte, konnte man sogar die Tarnung als Naturschutzgebiet unter der Rubrik »Nationale Sicherheit« rechtfertigen. Wie dem auch sein mochte, es gehörte zu der Story, dem Hintergrund. Das Domizil, in das Dr. Sanchez sich zurückgezogen hatte wegen einer kreativen Erschöpfung, wie er behauptet hatte, und von dem aus er gleichwohl immer noch Wirkstoffe und Verfahren entwickelte und Patente anmeldete.
    Die Telefonnummer des Anchorage-Büros war öffentlich; Neil hatte dort angerufen und gefragt, ob er seine Lieferung von Fröschen auch am Wochenende an das Labor weiterleiten könnte, sonst würde er sie am Montag bringen, und man hatte ihm versichert, alles, was vor zwei Uhr nachmittags einträfe, würde noch am selben Tag die zuständigen Stellen erreichen.
    Bis zur Mittagszeit hatte es Neil nach seinem Gespräch mit Sanchez zurück zu seinem Beobachtungsposten bei dem Bürohaus in Anchorage geschafft und fand seine eilige Rückkehr belohnt. Er beobachtete, wie ein Transporter mit Paketen beladen wurde. Er hoffte darauf, dass es sich um ein Versorgungsfahrzeug handelte, und wollte ihm folgen, falls es die Richtung nach Seward einschlug. Alaska war riesig, mit Naturschutzgebieten, von der Fläche größer als Bundesstaaten wie Massachusetts oder New Hampshire, und wenn er Pech hatte, dann ging es nur bis Lake Hood, dem Flughafen für die Wasserflugzeuge. Wer sagte, dass Livion sein Labor nicht über Lufttransporte versorgte? Die Erleichterung, als sie Anchorage hinter sich ließen und tatsächlich die Straße nach Seward nahmen, war für ihn greifbar; es war das Gefühl, starken Kaffee getrunken zu haben. Sein Herz hämmerte, und er sah alles ein wenig schärfer.
    Die Fahrt dauerte Stunden; zunehmend fand er es

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