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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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schwerer, sich auf den Lieferwagen vor ihm zu konzentrieren. Einmal bildete er sich ein, in einem der Fjorde einen Walrücken auftauchen zu sehen. Dann lenkte ihn der Exit Glacier ab, ein Auslauf des riesigen Harding-Eisfelds. Das Panorama war atemberaubend. Doch er war nicht hier, um die Landschaft zu bewundern.
    Fast hätte er den Moment verpasst, als der Lieferwagen in einen Seitenweg abbog. Ein ungeteerter Weg, mit warnenden Hinweisen versehen: In zwei Meilen beginnt das Connell-Naturschutzgebiet. Ein Betreten ist nur Personen gestattet, die der Staat Alaska autorisiert hat. Langsam bremste Neil ab und ließ den Wagen ausrollen. Er merkte sich die Abzweigung und fuhr bis zum nächsten Parkplatz mit Aussichtspunkt weiter, um dem Lieferwagen bei dessen Rückkehr nicht aufzufallen. Außerdem war es noch zu hell.
    Beatrice hatte in ihren E-Mails erwähnte, noch nie ein altes Buch in der Hand gehalten zu haben, und daher hatte er ihr aus einem Antiquariat einen Band mit Essays von George Orwell mitgebracht. Klein und schmal genug, um ihn in die Tasche seiner Lederjacke zu stecken. Während er wartete, holte er ihn hervor und strich über den roten Leineneinband. Orwell, dachte er, wäre empört über die heutige Welt gewesen, aber gewundert hätte ihn nichts.
    Er steckte das Buch in seinen Umschlag zurück, verstaute ihn in seiner Jacke, stieg aus dem Auto und atmete die kühle klare Nachtluft ein. Die Bäume streckten ihre kahlen Arme in den Himmel, als wären sie Opfer von saurem Regen, blattlos, nadellos; er erinnerte sich an die Üppigkeit der vermoosten Bäume in Louisiana und an die verwaisten Ölstationen, die schon Jahre vor seiner Geburt aufgegeben, aber nie demontiert worden waren, und die dort nutzlos zwischen den Sumpfpflanzen aufragten. So ähnlich stellte er sich den Laborkomplex vor; ein rundes, unpassendes Etwas aus Beton und Metall auf Stelzen, hineingesetzt in die Natur.
    Als es endlich dunkler wurde, kehrte er zurück zu der Abzweigung und fuhr sehr langsam weiter, während er Beatrices Nummer wählte. Sie fragte ihn, ob er ein geländegängiges Auto hätte, und gab ihm den Rat, nicht weiter auf den Haupteingang zuzuhalten, sondern es östlich etwa eine Meile nach den Bahngleisen abseits von der Straße zu versuchen. Wenn er nicht weiterkäme, solle er den Wagen einfach abstellen und die 500 Yard immer weiter Richtung Osten gehen, bis er auf einen Zaun träfe. Sie würde mit einer Lampe winken. Es dauerte eine Weile, doch schließlich befand er sich, das Handy in der einen, die Taschenlampe in der anderen Hand, vor einem Zaun, der elektrisch geladen aussah und sich endlos in beide Richtungen hinzog. Es dauerte nicht lange, bis er das Lichtfeld einer zweiten Lampe entdeckte.
    Mit einem Mal wurde ihm das Absurde der Situation bewusst. »Scully«, flüsterte Neil in sein Handy, »Scully, sind Sie das?«
    Aber acht Staffeln Akte X waren spurlos an Beatrice vorbeigegangen; Neil fragte sich, ob man hier im Inneren von Alaska überhaupt solche Programme empfangen konnte. Er hörte ihre Stimme unsicher fragen: »Neil?«
    Dann sah er sie. Ein Umriss in der Dämmerung, die trotz des wolkenverhangenen Himmels noch nicht in völlige Dunkelheit übergegangen war, wie er mit Taschenlampe und Handy bewaffnet, schlank und mittelgroß. Ihre Hände steckten in Handschuhen. Es war sehr lange her, seit er eine Frau Handschuhe hatte tragen sehen, wenn nicht gerade eisiger Winter herrschte, und er fühlte sich an ein impressionistisches Porträt erinnert. Sie trug einen Hut, was bei diesen Lichtverhältnissen merkwürdig wirkte, und er ahnte, dass ihr Wunsch, sich erst nach Sonnenuntergang zu treffen, nicht mit ihrer Arbeit oder durch Geheimhaltung zu erklären war. Was ihn jedoch überraschte und fesselte, war ihr Gesicht, das er im Schein der beiden Lampen erkennen konnte.
    Neil kannte Abbildungen von Dr. Sanchez aus dessen Jugend. Er war vor kurzem erst dem Original begegnet, und ein Foto von Elaine Sanchez hatte sich inzwischen ebenfalls auftreiben lassen. Beatrice glich keinem ihrer Eltern. Ihr herzförmiges Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den wie von einem Pinsel gemalten Augenbrauen verriet weder das kubanische Erbe ihres Vaters noch die rotblonde, robuste Erscheinung ihrer Mutter; wenn überhaupt jemandem, so ähnelte sie einer viktorianischen Elfe, mit der hellen Haut und den großen dunklen Augen. Nur der Mund, nicht klein wie der auf viktorianischen Porträts, gehörte mit seiner geschwungenen,

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