Götterdämmerung
sinnlichen Einladung ganz und gar zur Gegenwart und öffnete sich zu einem zögernden Lächeln, so ansteckend, dass er unwillkürlich zurücklächelte.
»Tut mir Leid wegen der Umstände«, sagte sie zur Begrüßung, und ihre Stimme ohne die technische Verzerrung des Telefons zu hören, berührte ihn auf eigenartige Weise. »Aber ich konnte wirklich nicht früher kommen, und außerhalb des Geländes kenne ich mich leider überhaupt nicht aus. Außerdem habe ich den Verdacht, dass du etwas von dem Laborgelände sehen wolltest.«
»Stimmt«, entgegnete er, »aber erst einmal wollte ich dir etwas geben.«
Er trat ein paar Schritte zurück und warf ihr das Buch über den Zaun zu. Beatrice hatte überraschend schnelle Reflexe für jemanden, der behauptete, nie einen Teamsport ausgeübt zu haben. Das Handy hatte sie weggesteckt, doch sie hielt die Taschenlampe noch immer in der linken Hand. Trotzdem fing sie den Orwell mit der anderen geschickt auf.
»Danke!«, rief sie und fügte mit einer Mischung aus nachklingender Freude und Schuldbewusstsein hinzu: »Mein Geschenk sollte ja das Treffen mit meinem Vater sein, aber das ist wohl ordentlich danebengegangen.«
»Kommt drauf an, aus welchem Winkel man es betrachtet«, sagte Neil diplomatisch.
Während sie das Buch nach einem langen Blick darauf verstaute, fragte sie, nicht herausfordernd, sondern sachlich: »Warum bist du hier, Neil? Wenn es darum geht, auf das Laborgelände zu kommen, dann vergiss es. Ich habe meine Grenzen, und selbst wenn ich dich hereinlotsen könnte, würde ich es doch nicht tun.«
»Loyalität gegenüber der Firma?«, gab er zurück. Sie nickte.
»Keine blinde Loyalität, Neil. Aber die Firma ist mein Arbeitgeber, und wenn sie das ganze Territorium hier hermetisch abriegeln, dann ist es ihr gutes Recht; das ist keine Maßnahme, die mir falsch erscheint.«
Neil besaß ein gutes Ohr für Zwischentöne.
»Dann gibt es andere Maßnahmen der Firma, die dir falsch erscheinen?«
Das Licht, das sie aus der Dämmerung hervorhob, zeigte ihm, dass sie sich auf die Lippen biss, während sie mit der Antwort zögerte. Die Offenheit ihres Mienenspiels frappierte ihn; weder in Washington noch an der Universität Harvard konnte man es sich leisten, so deutlich seine Gefühle zu zeigen. Sogar seine Studenten kamen ihm im Vergleich wie Berufsschauspieler vor.
»Es gibt… Entwicklungen…«, sagte sie langsam, »die mir bedenklich erscheinen. Aber sie werden wahrscheinlich nie über ein bestimmtes Stadium hinausgehen. Die meisten Experimente enden ohnehin in einer Sackgasse, Neil. Nur etwa zwei Prozent führen zu etwas. Außerdem ist es möglich, dass all das, was mir Sorge bereitet, nicht von der Firma ausgeht, sondern nur von einem Einzelnen getragen wird. Und bis ich mir da nicht sicher bin…«
Sie hörte plötzlich auf zu reden. Neil bemerkte zum ersten Mal, wie sich in der Nachtluft die Gerüche von feuchtem Wald und Seeluft vermengten; er erinnerte sich daran, wie er mit Onkel Owen auf die Jagd gegangen war. Das vorsichtige Heranpirschen; es war das gleiche Gefühl, das ihn jetzt erfasste.
»Hat es mit den AIDS-Forschungen deines Vaters Anfang der Achtziger zu tun?«, fragte Neil.
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Du hast dich da in etwas verrannt, Neil. Das alles steht mit AIDS in keinerlei Zusammenhang, und mein Vater hat mit dem, was mir Sorgen macht, auch nichts am Hut. Die Angelegenheit gefällt ihm ganz und gar nicht.«
Sein journalistischer Instinkt riet ihm, sie jetzt unter Druck zu setzen; wer wusste, ob er ihr jemals wieder begegnete. Aber etwas warnte ihn, dass sie durchaus imstande war, sich auf der Stelle und endgültig zurückzuziehen, wenn er zu direkt wurde.
»Erzähl mir von deiner Arbeit«, sagte er mit beherrschter Freundlichkeit. »Keine vertraulichen Details natürlich. Damit ich eine ungefähre Idee von dem bekomme, was du tust; bei deinen E-Mails war mir nicht klar, ob es mehr mit Computern oder mit dem Zusammenmixen von irgendwelchen Flüssigkeiten zu tun hat.«
Er konnte sehen, wie sich ihr Körper sofort entspannte.
»Das eine hängt mit dem anderen zusammen«, erklärte sie. »Ich arbeite hauptsächlich mit DNA-Chips, Neil. Damit lassen sich Diagnosen unendlich schneller durchführen als mit den alten Reagenzglas-Methoden.«
»Verzeih die dumme Laienfrage, aber wie funktioniert so ein Chip genau? Ich kann mir auf Anhieb unter DNA-Chip nur so etwas wie elektronische Erbanlagen vorstellen, und das meinst du ja sicher
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