Götterdämmerung: Das Todes-Labyrinth (German Edition)
Blicklos wie ein Traumwandler durchstreifte er das verlassene Schiff und versuchte, der Bilder und Erinnerungen Herr zu werden, die ihn bedrängten.
Es wird nie mehr sein , flüsterte eine Stimme, fremd und vertraut zugleich, und es war verlockend, ihr zuzuhören und sich einzulassen auf die Gewissheit des Unabänderlichen. Du musst loslassen , wisperte die Stimme. Dann wird auch der Schmerz vergehen. Was du suchst, ist nicht mehr als ein Wunschbild – ein Phantom. Du wirst es niemals festhalten können …
»Netter Versuch«, murmelte Farr, plötzlich wieder Herr seiner Sinne, und seine Gestalt straffte sich.
Dummkopf … , flüsterte die Stimme seiner Zweifel und erstarb, als sich der Kommandant mit raschen, energischen Schritten auf den Rückweg machte.
»Irgendetwas Interessantes?«
Koroljovs Kopf zuckte herum; im Gegensatz zu Layla hatte er den Kommandanten nicht eintreten hören.
»Vielleicht«, murmelte er vorsichtig. »Die Schiffsintelligenz ist leider nicht besonders kooperativ, was die Restaurierung der Daten anbetrifft. Ich lade gerade eine Kopie des entsprechenden Speicherblocks herunter und versuche, ihn drüben zu analysieren.«
»Und bei Ihnen, Mrs. Latimer?«
»Alles im grünen Bereich, Commander«, erwiderte Layla, ohne den Blick von der Monitorwand abzuwenden. »Unsere Turteltauben haben inzwischen ihren Landausflug beendet – ist ja auch ziemlich trist da draußen und Stoff gibt’s auch keinen …«
»Nicht so vorlaut«, grinste Farr. »Sonst stecke ich Sie in eine Zeitmaschine. Außerdem glaube ich, dass uns dieser Mr. Morrison etwas vormacht.«
»Nee, besser nicht, Commander.« Das Fledermausohr zuckte nervös, als Layla sich umwandte. »Bin froh, dass ich einigermaßen clean bin. Aber was Mr. Lederhose da eben abgezogen hat, sah eigentlich ziemlich echt aus.«
»Vielleicht mag er die Rolle ja, die er spielt. Warten wir es einfach ab. – Sind Sie fertig, Mr. Koroljov?«
»Im Großen und Ganzen, ja.« Der Russe stand auf und verstaute etwas in seinem Overall, das aussah wie ein gläserner Würfel.
»Gut, dann brechen wir auf. Mrs. Latimer, Sie übernehmen bitte die Führung.«
An Bord der Hemera zurückgekehrt, ignorierte der Kommandant die fragenden Blicke und zog sich, nach kurzer Abstimmung mit Ortega, in seine Kabine zurück. Für das, was er vorhatte, bedurfte er keiner menschlichen Gesellschaft.
»Vera«, sagte er laut, nachdem er den Papierbogen entfaltet und glatt gestrichen hatte. »Kannst du das hier lesen?«
»Natürlich.« Die Frau auf dem Bildschirm lächelte. »Wenn du das Blatt auf das Scannerfeld legst …«
Auf dem Schreibtisch erschien eine grüne Rechteckmarkierung im Dokumentenformat.
Ich hätte den Nachsatz abtrennen sollen , dachte Farr ein wenig verlegen, als er das Papier in den markierten Bereich schob. Aber was soll’s? So privat ist es auch wieder nicht.
»Das ist Deutsch«, erklärte Vera nach einem kurzen Moment der Analyse. »In den Archiven gibt es Zehntausende Dokumente in dieser ausgestorbenen Sprache. Die Aufzeichnungen haben jene überlebt, die der Sprache einst mächtig waren, was beim Untergang von Kulturen durchaus die Regel ist.«
»Aber um was für eine Art Text handelt es sich? Du kannst ihn doch sicher übersetzen?«
»Das ist bei Gedichten nicht ganz einfach, und hier handelt es sich um eine Strophe aus dem seinerzeit äußerst populären ›Stundenbuch‹, einem Gedichtzyklus des Lyrikers Rainer Maria Rilke.«
Rilke? , dachte Farr überrascht. So hieß doch Miriams Halbbruder Christoph mit Nachnamen. Stammte das Gedicht etwa von jemandem aus ihrer Familie?
»Die Beziehung ist komplizierter«, erklärte Vera, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Dieser Dichter hat etwa 200 Jahre vor dem Exodus gelebt und ist relativ jung gestorben. In den Archiven ist nur verzeichnet, dass er eine Tochter hatte. Sämtliche weiterführenden Daten sind durch den Crash verloren gegangen. Ob es sich bei Miriam Katanas Vater um einen direkten Nachkommen handelt, ist trotz der Namensgleichheit nicht nachzuweisen.«
»Ich brauche trotzdem die Übersetzung«, beharrte Farr. »Wovon handelt das Gedicht?«
»Von einem Dorf und einem Haus am Ende der Welt. Seinerzeit nahm man an, dass es sich um eine Metapher handelte. Miriam Katana scheint allerdings davon ausgegangen zu sein, dass dieses Dorf tatsächlich existiert – hier.«
»Du meinst, die verlassene Siedlung?«, fragte er ohne wirkliche Überraschung. Was sonst hätte Miriam als
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