Götterdämmerung (German Edition)
ihrer Haustür, in ihrem Vorgarten und soweit sie es erkennen konnte sogar im Carport. Sie befanden sich überall rings um ihr Haus. Lauerten ihr auf.
„Kai“, flüsterte sie und blieb stehen. „Was soll ich tun?“
Unschlüssig starrte sie auf ihr Haus, auf die Haustür, die sie nicht unbemerkt würde passieren können. Sollte sie es wagen die Fremden anzusprechen? Sie sahen nicht unbedingt gefährlich aus, aber wenn man bedachte, womit einige von ihnen die letzten Stunden, Tage , verbracht hatten, kam man zu dem Schluss, dass es nicht viel aussagte, wie sie aussahen. Die Leute waren verrückt. Und Verrückte reagieren nicht rational.
Evas Herz schien in ihrer Brust auf seine dreifache Größe anzuschwellen. Es drückte gegen ihre Lunge und schnürte ihr den Atem ab. Schweiß lief ihr den Nacken hinab und tränkte ihren Pullover. Sie wischte sich die Hände an ihrer Hose ab und wollte sich umdrehen, aber eine der Personen hatte sie bereits entdeckt.
Es war ein junger Mann, den sie hier bisher noch nicht gesehen hatte. Er trug einen dunklen Anzug und etwas, das Eva merkwürdigerweise an Pantoffeln erinnerte.
„Eva! Warte!“, rief der Mann.
Da war er wieder. Ihr Name.
Eva rannte an ihm vorbei auf ihr Haus zu. Aber noch bevor sie den Treppenabsatz erreichen konnte, hatte der Mann sie eingeholt und griff nach ihrem Arm. Die anderen Leute waren ebenfalls näher gekommen und umringten sie. Einige stellten sich vor die Haustür.
„Wo warst du denn so lange?“, fragte der Mann. „Ich warte schon seit Stunden auf dich. Du hättest mich informieren müssen!“
„Daniel!“, rief Eva hilfesuchend. Im Haus rührte sich nichts.
„Ist Daniel denn zu Hause?“, fragte der Mann erstaunt. „Ist die Schule schon vorbei?“
„Wer sind Sie?“, fragte Eva mit rauer Stimme. Der Mann streckte die Arme aus, als wollte er sie umarmen. Eva wich vor ihm zurück.
„Was hast du denn?“, fragte der Mann gekränkt. „Ich habe dich so lange gesucht und dann weichst du mir aus. Was soll das?“
„Eva!“, rief eine Frau, die von Kopf bis Fuß in Gelb gekleidet war. Sonnengelber Hut, leuchtend gelbe Schuhe und auch der Rest ihrer Kleidung war von einem intensiven Gelb. Lediglich die Strumpfhosen und die Knöpfe ihres Blazers waren weiß. Die Frau sah aus, als käme sie direkt von einer skurrilen Modenschau. „Wo hast du gesteckt?“
Eva gingen so viele Gedanken durch den Kopf, dass ihr Verstand nicht mehr hinterherkam. „Woher kennen Sie mich?“, flüsterte sie.
Der Mann lächelte versöhnlich. „Aber Giräffchen! Wieso siezt du mich? Was ist los mit dir?“
Eva fuhr zusammen. Giräffchen. So hatte Kai sie manchmal genannt. Nur Kai. Niemand sonst konnte von diesem Spitznamen wissen.
„Wer sind Sie?“, krächzte sie. „Sagen Sie mir endlich, wer Sie sind!“
„Ich bin dein Mann“, erwiderte der Mann. „Kai.“
„Das ist unmöglich.“ Sie hob abwehrend die Arme.
„Ich bin Kai“, wiederholte der Mann. Die Frau in Gelb nickte zustimmend. „Ja. Ich bin Kai“, erklärte sie lächelnd. Auch die anderen Gestalten nickten und wiederholten diesen Satz wie ein Mantra.
„Kai ist tot“, sagte Eva fassungslos. „Seit zwölf Jahren schon.“ Sie spürte, wie sich Zorn zu ihrer Fassungslosigkeit gesellte und ihre Stimme kräftiger wurde. „Lassen Sie mich endlich in Ruhe!“, verlangte sie. „Alle! Das ist mein Haus. Verschwinden Sie!“
Die Leute reagierten nicht. Sie standen vor dem Eingang, als warteten sie nur darauf, eingelassen zu werden. Eva trat einen Schritt rückwärts, weg vom Haus und drehte sich zu den Leuten in ihrem Rücken um. „Lassen Sie mich durch!“, schrie sie. „Verschwinden Sie von hier!“
Die Fremden machten ihr Platz, schüttelten aber verständnislos den Kopf.
Eva rannte an ihnen vorbei. Dann stolperte sie über einen Stein, der ein Stück aus dem Boden herausragte. Halt suchend ruderte sie mit den Armen und stürzte wie ein Sack zu Boden.
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„Als Sie zu uns kamen, lagen Sie im Koma“, erzählte Nadja. Ihr Blick glitt durch die Wände des Labors und der Tiefgarage und wirkte so leer, als wäre das Leben darin in eine andere Zeit gebeamt worden. „Ihre Chancen, jemals wieder aufzuwachen, tendierten gegen Null.“ Sie sah ihn an. „Sie wissen von dem Unfall?“
Ben nickte. „Ich bin verschüttet worden?“
„Ja. Als die Rettungskräfte Sie aus den Trümmern gezogen hatten, waren Sie tot. Sie – der Junge ist wiederbelebt worden. Aber es war zu spät.
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