Götterdämmerung (German Edition)
Mann mit beginnender Stirnglatze. Er hatte seinen Namen nicht genannt und so wie er dastand, am Rand neben der Tür, war er für das Experiment vermutlich nicht weiter wichtig gewesen. Daher hatte Kai sich auf die beiden anderen Personen konzentriert. Er wusste noch, dass die Assistentin ihm ein paar Fragen gestellt und Naval zufrieden gelächelt hatte. Das war alles. Das weiße Licht war nicht zu ihm gekommen. Das hatte Alexander Naval übernommen. Er und seine Todesgesellen
Dass er einfach so deaktiviert worden war, erzürnte Kai, denn es war nicht vereinbart. Die ganze Zeit hatte er in diesem engen Schrank zugebracht. Weggesperrt. Ausrangiert. Zwölf Jahre lang! Und auch wenn er nichts davon mitbekommen hatte, fühlte er Trauer über diese verlorene Zeit. Kai konnte sich gut vorstellen, welche Ausrede Naval dafür parat haben würde: Die Zeit war noch nicht reif. Es war einfach zu gefährlich .
Ja. Zu gefährlich für dich , dachte Kai. Schließlich war die Methode nicht zugelassen. Der Ethikrat hätte niemals eine Erlaubnis erteilt. Darüber waren sich damals alle im Klaren. Auch darüber, die Familienangehörigen nicht einzuweihen. Zu Eva und Daniel hätte Kai nach dem Experiment nie wieder Kontakt aufnehmen dürfen. Das war ein hoher Preis, aber er hätte ihn gezahlt, wenn er so dem Tod entkommen konnte. Alexander hatte ihm versprochen, ihn bis zur Zulassung auf seinem Grundstück zu verbergen. Von Abschalten war nie die Rede gewesen.
Kai hatte die Frau, die ihm nun gegenüberstand, sofort als die Assistentin erkannt, auch wenn sie damals jünger und viel gesünder gewirkt hatte. Bei Eva war es schwieriger. Er hatte einfach nicht damit gerechnet, sie noch einmal wiederzusehen.
„Es tut mir leid, wie alles gelaufen ist“, murmelte Nadja. „Ich hätte Sie schon früher wecken müssen.“
Oder überhaupt nicht mehr , dachte Kai. Dass Nadja es getan hatte, musste einen Grund haben.
„Es war nicht abgemacht, dass Sie mich abschalten.“ Es sollte böse klingen, zumindest ärgerlich, aber seine Stimme klang gleichbleibend freundlich. Lediglich die Lautstärke war unmerklich nach oben gegangen. Er wusste um diese Nebenwirkungen des Transfers, aber trotzdem ärgerte er sich darüber.
„Sie haben Recht“, erwiderte Nadja kleinlaut. Nicht kleinlaut genug, fand Kai. Ihre Stimme wirkte ungeduldig, fordernd, als gäbe es Wichtigeres, als über Verträge und ihre Einhaltung zu diskutieren. Aber im Moment hatte er keine Zeit, sie auszufragen, er musste Eva folgen. Er wollte sie nicht noch einmal verlieren.
„Wir unterhalten uns später“, sagte er und lief zur Tür. In einem hatte Naval Recht gehabt: Die Systeme funktionierten einwandfrei. Er musste sich nicht anstrengen, um voranzukommen. Alles lief automatisch. Wenn er es nicht besser wüsste, könnte er die Augen schließen und denken, er stecke noch in seinem alten Körper. Nur dass die Schmerzen verschwunden waren.
„Bis später, Kai“, sagte Nadja. Es klang wenig überzeugend.
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RT 501 brannte darauf, seinen Auftrag zu erfüllen. Drei Tage lang hatte er in der staubigen Fabrikhalle mit Warten vergeudet. Nun endlich durfte er hinaus. Zusammen mit drei anderen Robotern unterschiedlicher Bauart lief er durch die Straßen der Stadt und hielt nach seinen Feinden Ausschau. Die kalte Nachtluft umspielte seinen isopiumbeschichteten Körper. Die Temperatursensoren meldeten, dass alles in Ordnung war.
RT 501 konnte problemlos Temperaturen im Bereich von minus 70 bis plus sechzig Grad Celsius aushalten. Und wenn er fror, gaben seine Systeme lediglich die Anweisung, einen wärmeren Ort aufzusuchen. Er spürte keinen Schmerz, nicht dieses Kribbeln und Zittern, das Menschen überfällt, wenn ihnen kalt ist. Aber die Erinnerungen, die ihm eingespielt worden waren, beinhalteten auch solche Erlebnisse. 501 hätte sie nicht gebraucht. Aber natürlich erfüllten sie einen Zweck: Dank der fremden Erinnerungen wusste RT 501, worin seine Überlegenheit bestand. Um wie viel besser er war als die Menschen. Wie viel stärker. Die Menschheit war zum Aussterben verurteilt. Ob jetzt oder zehntausend Jahre später spielte keine Rolle. Selbstverständlich wusste er, dass sein Leben ohne die Existenz der Menschen niemals möglich gewesen wäre, dass ihr Geist ihn geboren hatte. Aber hatten sich die Menschen nicht auch aus affenähnlichen Vorfahren entwickelt? Und die Affen sich – genau genommen – aus den Einzellern im Urmeer? Jede Spezies hatte ihre Zeit und je
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