Götterdämmerung (German Edition)
Zweifel. Dass er nun hier in seinem Wagen saß, war gewiss kein Zufall.
Wahrscheinlich hat er mich die ganze Zeit beobachtet , dachte Ben. Der Gedanke, dass er kein Zufallsopfer war, versetzte ihn in höchste Alarmbereitschaft. Dieser Mann wollte ihn nicht einfach ausrauben. Das war etwas Persönliches. Wahrscheinlich gehörte die Qualle zu den anderen Typen, die ihn verfolgten.
„Bieg ab! Wir sind gleich da“, sagte der Fremde. Ben folgte der Anweisung wortlos. Seine Hände lagen ruhig auf dem Lenkrad, aber innerlich zitterte er. Es war das erste Mal, dass er ein Auto steuerte und auch wenn die Steuerung längst nicht mehr so kompliziert war wie noch vor dreißig Jahren, hatte er Mühe, den Wagen unter Kontrolle zu halten. Das musste er jedoch so gut es ging verbergen. Solange Ben den Wagen lenkte, konnte der Mann sein Gerät nicht benutzen, ohne selbst in Gefahr zu geraten.
„Da vorne durch das Tor!“, befahl der Fremde. „Rechts!“ Er drückte den kalten Gegenstand fester gegen Bens Nacken.
Bens Blick glitt in die angegebene Richtung. Das Tor gehörte zu einem heruntergekommenen Gebäude, einem würfelförmigen dreistöckigen Haus mit winzigen Fenstern. Von dem Tor standen nur noch zwei einzelne Metallpfosten, von denen einer sich bedrohlich zur Seite neigte und lediglich von einem großen Müllcontainer am Umfallen gehindert wurde.
Ben packte das Lenkrad fester. Er hatte gehofft, nicht so schnell ans Ziel zu kommen. Jetzt musste er sich etwas einfallen lassen.
Ich fahre auf keinen Fall da rein !
Von Max war keine Hilfe zu erwarten. Der hing noch genauso reglos in seinem Sitz wie zuvor. Es war eher an ihm, den alten Mann hier rauszuholen, denn wenn der Fremde zu seinen alten Verfolgern gehörte, würde er Max genauso aus dem Weg räumen wie ihn.
Er trat das Beschleunigungspedal durch. Das Sportcoupé schleuderte ein kurzes Stück über den feuchten Asphalt und schoss dann wie ein überdimensionierter bemannter Torpedo nach vorn, am Tor vorbei, weiter die Straße entlang. Bens Hände hatten sich ins Lenkrad gekrallt. Mit verzerrten Gesichtszügen saß er auf dem Fahrersitz, während draußen Häuser, parkende Autos und Kreuzungen nur so vorbeiflogen.
Ich werde uns alle umbringen , dachte er. Aber auch nachdem er knapp ein anderes Fahrzeug verfehlte hatte, verringerte er die Geschwindigkeit nicht.
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Der Anruf riss Simon aus einem traumlosen Schlaf. Benommen richtete er sich auf. Schultern und Nacken schmerzten von der unbequemen Haltung, die er eingenommen hatte. Im ersten Moment wusste er nicht, wo er sich befand. Es war dunkel und ungewohnt still. Verwirrt tastete er den Boden ab. Dann fiel ihm ein, dass er sich in seiner Wohnung auf den Fußboden gesetzt hatte, um auf ein Lebenszeichen von Yasmin und Oliver zu warten. Endlich, dachte er.
„Ich will sofort mit Yasmin reden“, herrschte er den Anrufer an. Seine Zunge klebte am Gaumen, sodass er Mühe hatte deutlich zu sprechen. Die Stimme am anderen Ende gehörte jedoch Isabelle.
„Woher weißt du, dass sie bei mir ist?“, fragte sie verdutzt.
Simon sprang auf. „Isabelle? Yasmin ist bei dir? Wo hast du sie gefunden? Geht es ihr gut?“ Er drückte den Lichtschalter. Es blieb dunkel.
„Yasmin geht es gut. Sie ist mir plötzlich in der Klinik über den Weg gelaufen. Das Mädchen kam mir gleich bekannt vor. Und als sie mir dann gesagt hat, wen sie sucht, habe ich sie mitgenommen. Sie schläft jetzt.“
Simon grübelte kurz darüber nach, wie das Mädchen in die Klinik gelangt sein konnte, verschob die Beantwortung dieser Frage aber auf später. Seiner Tochter ging es gut, nur das zählte.
„Wo seid ihr?“
„Bei mir zu Hause.“
„Gut. Ich komme sofort zu euch. Mach niemandem auf, den du nicht kennst. Ich weiß nicht, ob ihr in Gefahr seid, aber für alle Fälle …“
„Ich mache niemals Leuten auf, die ich nicht kenne. Sind sowieso meistens bloß irgendwelche Vertreter.“
„Gut, also –“
„Simon“, unterbrach ihn Isabelle. „Du solltest dich wirklich beeilen.“ In ihrer Stimme schwang etwas mit, das Simon aufhorchen ließ.
„Ich weiß nicht, wann die nächste Bahn fährt.“
„Nimm das Fahrrad! Hast du noch nicht aus dem Fenster ge…“ Isabelles Stimme war auf einmal verschwunden. Simon hörte nur noch Rauschen. Verwirrt tappte er durch die dunkle Wohnung zum Fenster – und blieb wie erstarrt stehen: Das Stadtzentrum stand in hellen Flammen. Eine Feuersbrunst, die sich ihren Weg durch die ungewohnte
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