Götterdämmerung (German Edition)
Ihr Körper hatte sich von dem künstlichen Koma täuschen lassen.
Tja, ist nicht meine Schuld , dachte er. Wir wollten nur den Jungen. Hätte Vincent sauber gearbeitet, wärst du jetzt nicht hier. Du hättest dein Leben unbehelligt weiterführen können. Na ja, fast, unterbrach er seine Gedanken. Er dachte an Yasmin. Stellte sich vor, wie er reagieren würde, wenn seiner Tochter etwas angetan würde.
Das ist nicht dasselbe , sagte er sich und schüttelte den Gedanken ab.
Er nahm den NPT-Stick, drückte ihn leicht gegen den Unterarm der Frau und entsicherte per Fingerdruck von oben den Verschluss. Die Nanopartikel würden selbstständig den Weg über die Haut in den Körper finden. In geringer Menge regten sie die Selbstheilungskräfte des Körpers an – in großer Zahl überforderten sie den geschwächten Körper und ließen ihn kollabieren. Da diese Stoffe routinemäßig verabreicht wurden, und sich zudem bald nach dem Tod zersetzten, würde seine Extradosis kaum auffallen. Simon steckte den Stick unauffällig in seine Hosentasche. Von jetzt an würde es nur noch wenige Minuten bis zum Tod der Frau dauern. Er verließ den Raum, gab der Schwester Bescheid, dass der Zustand der Frau kritisch sei und sie frühestens in zwei Tagen verlegt werden könnte. Schließlich verließ er die Station.
„Und nun zu dir“, murmelte er.
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RT 501 fiel es zusehends schwerer, sich vor den Menschen zu verbergen. Inzwischen war es hell geworden und er hatte Schwierigkeiten, sich zu verstecken. Aber er musste weiter. Zu dem U-förmigen Gebäude mit der blauen Glasfassade, das er vor sich sah. Es war ganz in der Nähe. RT 501 konnte nicht mit Sicherheit sagen, woher die Bilder stammten, die er plötzlich so deutlich sah. Möglicherweise waren sie das Ergebnis externer Datenübertragungen. Immerhin hatte er während seiner Zeit als Sklave die Lagerhalle niemals verlassen. Davor allerdings … Was davor gewesen war, wusste er nicht.
Bruchstückhaft kamen Erinnerungen an ein früheres Leben in ihm hoch, aber er war nicht in der Lage, sie gezielt abzurufen.
Er wählte den direkten Weg zu dem blauen Gebäude. Niemand hatte mehr versucht, ihn aufzuhalten, doch er spürte die Gefahr, die von den Bio-Humanoiden ausging. Manche blickten ihn argwöhnisch an, so als wüssten sie, dass er nicht hier sein durfte. Andere starrten ihm so neugierig hinterher, als hätten sie noch nie einen Roboter seiner Bauart gesehen und wieder andere ignorierten ihn völlig, aber RT 501 spürte ganz genau, dass auch diese Menschen ihm nicht wohlgesinnt waren. Manchmal kam er an anderen Robotern vorbei. Sie waren wesentlich kleiner als er und entstammten einer komplett anderen Baureihe, aber so wie sie sich bewegten, gehörten sie offensichtlich zu den Menschen. Ließen sich von ihnen steuern.
RT 501 hatte nichts als Verachtung für sie übrig.
Er gelangte in eine kleine Siedlung am Stadtrand, die schließlich in ein Gewerbegebiet überging, passierte einen Baumarkt, der ihn erschreckend an die Lagerhalle erinnerte, aus der er geflüchtet war und wechselte hastig die Straßenseite, ohne sich von der roten Ampel aufhalten zu lassen oder von den Autos, die im Schritttempo an ihm vorbeischlichen. RT 501 ging davon aus, dass ihn die Fahrzeuge schon vorbei lassen würden und so war es auch. Das laute Hupen, das ihm folgte, beachtete er nicht.
Dann hörte er die Stimme.
Alexander , rief die Stimme. Sie war unangenehm laut und barsch.
Alexander, bist du endlich fertig?
Der Roboter blieb stehen und sah sich um. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass die Stimme aus seinem Inneren kam. RT 501 senkte den Kopf. Er wollte die Stimme nicht hören. Es war keine angenehme Erinnerung, die er mit ihr verband. Für einige Sekunden sah er sich im Körper eines etwa siebenjährigen Jungen.
Er sah sich am Tisch sitzen und Zahlen und Buchstaben in ein kariertes Heft malen. Seine Fingerspitzen waren ganz blau von der Tinte seines Füllfederhalters. Er betrachtete die Buchstaben und fand sie wirklich gelungen. Dünne, schwungvolle Linien, die sich zu komplexen Mustern aufbauten. Die Uhr auf seinem Schreibtisch tickte leise. Gleich würde der große Zeiger die Zwölf erreichen, bis dahin sollte er fertig sein.
Sein Vater hatte eine Vorliebe für Uhren, er liebte ihre Zuverlässigkeit, ihre Exaktheit. In jedem Zimmer gab es fast ein halbes Dutzend davon, selbst im Kinderzimmer. Tischuhren, Wanduhren, drei Standuhren, Armbanduhren. Analoguhren und
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