Götterdämmerung (German Edition)
zeigte Vierzehn Uhr zwölf.
Er schloss das E-Panel, das halb von seinem Schoß gerutscht war, faltete es zusammen und steckte es in seine Tasche. Dann wandte er sich erneut der Aufnahme zu und jetzt bemerkte er ihn. Der Junge war da. Er konnte ihn genau erkennen.
Simon setzte sich aufrecht hin, spannte seine Muskeln an wie ein Läufer am Startblock und machte sich bereit. Jetzt endlich spürte er die Aufregung, spürte das Adrenalin, das seinen Körper überflutete.
Herzlich Willkommen im Hallstal-Klinikum , dachte er. Dem Klinikum Ihres Vertrauens. Wir kümmern uns jederzeit gerne um Sie.
Simon versuchte zu grinsen, schaffte es jedoch nur, sein Gesicht zu einer starren Maske zu verziehen
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Unruhig stand Ben vor dem Aufnahmeschalter und musterte die Ärztin, die ihm mit ernstem Blick vom anderen Ende der Halle entgegen kam. Er war so gespannt, dass er auf jede Kleinigkeit achtete: auf ihre entschlossenen Schritte, die auf dem harten Fußboden widerhallten, die strenge und gleichzeitig geschäftige Miene, mit der sie sich zu schützen suchte, die grauen Augen, die seinen auswichen, die Falte, die sich quer über ihre Stirn legte. Bevor sie auch nur ein Wort gesagt hatte, wusste er Bescheid und sämtliche Hoffnungen der letzten Stunden lösten sich auf.
Die Ärztin stellte sich als Dr. Berger vor und bat ihn, ihr in ein kleines Zimmer zu folgen, wo sie ihn Platz nehmen ließ.
Ben setzte sich widerwillig, verschränkte die Hände vor der Brust und starrte auf die Rückseite des Bildschirms auf ihrem Schreibtisch.
„Sind Sie ein Angehöriger von Frau Maiwald?“, wollte die Ärztin wissen.
Ben nickte. „Ich bin ihr Sohn“, murmelte er.
„Ihr Sohn?“ Sie zog die Brauen hoch.
Wieder nickte Ben. „Ben Maiwald, ja.“
Die Ärztin zögerte. „In meinen Unterlagen steht nichts von lebenden Angehörigen. Sie sind nicht vermerkt.“
Ben starrte sie ungläubig an. „Aber es steht in meinem Ausweis!“
Er fasste in die Tasche, um den Ausweis hervorzuholen, als ihm einfiel, dass er außer einem Knopf und seiner Geldkarte nichts bei sich trug.
„Er ist zu Hause“, fügte er hinzu. Sein Mund fühlte sich staubtrocken an. Er wartete auf das Unvermeidliche, was die Frau ihm mitzuteilen hatte. Sie ist tot. Drei schreckliche Worte, die er aushalten musste. Es tut mir leid. Vier schreckliche Worte. Wir haben alles versucht .
Er schaffte es gerade so, sich zusammenzureißen. Für nervenaufreibende Diskussionen über fehlende Unterlagen fehlte ihm die Kraft.
„Was ist mit ihr?“, drängte er. „Kann ich sie sehen?“
Die Ärztin schüttelte den Kopf und sah ihn misstrauisch an. Sie überlegte. „Frau Maiwald ist heute Vormittag verstorben“, sagte sie schließlich. „Es tut uns leid. Wie sagten Sie, war Ihr Name?“
Ben stand auf. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er wollte nur weg. „Ben Maiwald“, murmelte er. Die Ärztin sah mit zweifelndem Blick auf ihren Bildschirm. Dann erhob sie sich ebenfalls und wies auf die Tür. „Ich kann Ihnen leider keine weiteren Auskünfte erteilen“, sagte sie.
Ben nickte und verließ das Zimmer.
Durch die geschlossene Tür konnte er nicht sehen, dass die Ärztin die Polizei benachrichtigte.
Er lief über den riesigen Klinik-Parkplatz, unfähig auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Die Leute, die ihm entgegen kamen, nahm Ben kaum wahr. Sie schienen ihm wie Gespenster aus einer anderen Welt, in der er sich nicht mehr zurechtfand. Das Tageslicht blendete und lähmte ihn. Als er die Straße fast erreicht hatte, blieb er stehen, kauerte sich zwischen zwei Autos und schlug die Hände vors Gesicht. Er wollte nichts mehr sehen, nichts mehr fühlen. Es war vorbei. Sein gewohntes Leben war erdrutschartig unter ihm weggebrochen. Ohne seine Eltern fühlte Ben sich allein und hilflos. Und das war er auch. Er hatte sich verirrt in einem Labyrinth, aus dem es keinen Ausgang gab und keine Hoffnung auf Rettung. Die Männer würden ihn weiter suchen. Sein Vater war verschollen oder tot. Er hatte nichts außer seiner Geldkarte und der verdreckten Kleidung, die er trug. Ben dachte an das aufgesetzt ausdruckslose Gesicht der Ärztin. Was hatte sie gesagt? Es gab keinen Vermerk über Angehörige? Was war mit seinem Vater? Wieso stand er nicht in den Unterlagen? Weil er tot war? Dann hatte man ihn also gefunden. Er musste noch einmal zurück und nachfragen.
Ben stand auf und lehnte sich gegen einen rot-weiß gestreiften Kleinwagen. Ihm war schwindelig. Am liebsten
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