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Götterdämmerung (German Edition)

Götterdämmerung (German Edition)

Titel: Götterdämmerung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Schwarzer
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hätte er sich gleich wieder zu Boden sinken lassen, aber er zwang sich, stehen zu bleiben. Weiter.
    Wie ein Verwundeter, der jeden Moment umzufallen droht, schlurfte er über den Parkplatz. Der Weg zum Eingang kam ihm endlos vor, aber er schaffte es, sich auf den Beinen zu halten. Dann brach plötzlich eine Erinnerung über ihn herein, die so stark war, wie er es noch nie zuvor erlebt hatte und er sank überwältigt auf die Knie.
     
    In seiner Erinnerung war Sommer und er gerade drei Jahre alt. Er saß in seinem neuen gelben Tretauto, einem Geburtstagsgeschenk seiner Eltern. Das Auto hatte eine Hupe, die wie eine Ente quietschte und er fuhr lachend und hupend die schmale Straße vor seinem Elternhaus hinunter. Er sah seine Mutter, die mit heller Stimme lachend hinter ihm her lief und seinen Vater, der wie immer eine Zeitung in der Hand hielt, die er bei jeder Gelegenheit aufschlug, um ein paar Sätze darin zu lesen. Er sah den großen schwarzen Nachbarshund, der ihn durch die Gittertür hindurch ankläffte. Jemand rief ihn beim Namen.
    „Kai, warte! Komm zurück!“
     
    Ben starrte auf den grauen Asphalt. Er brauchte eine Weile, bis er bemerkte, dass er wach war. Er sah die Rillen auf dem Asphalt, die Autos und Sonne im Laufe der Jahre darin hinterlassen hatten, bemerkte, dass Leute neugierig an ihm vorbei gingen, hörte eine Stimme, die freundlich sagte, „Warten Sie, ich kümmere mich darum“, aber er war zu bestürzt, um wirklich darauf zu achten.
    Was war das, dachte er entsetzt. Das war nicht ich. Also was war das?
    Er hatte immer noch die Gesichter der beiden Erwachsenen vor sich, ebenso die Straße und den Hund. Er kannte sie nicht.
    Nur ein Tagtraum , redete er sich ein. Eine Halluzination oder so etwas. Ich stehe unter Schock. Ich muss mich behandeln lassen.
    Er kam mühsam wieder auf die Beine, sah an den Leuten vorbei, die ihn aus sicherer Entfernung betrachteten und in ihre Autos stiegen.
    „Ich heiße Ben Maiwald“, murmelte er. „Ich bin fünfzehn Jahre alt.“ In Gedanken zählte er bis zwanzig. „Es ist alles in Ordnung“, flüsterte er. „Ich bin in Ordnung.“ Dann brach er in Tränen aus.
    „Kann ich dir helfen?“, fragte eine tiefe, freundliche Stimme neben ihm. Ben schüttelte den Kopf. Der Mann, der ihn angesprochen hatte, wirkte besorgt. Er hatte ein freundliches rundes Gesicht. Sein blütenweißes T-Shirt spannte leicht am Bauch, trotzdem wirkte er eher schlank.
    „Du siehst wirklich aus, als könntest du Hilfe gebrauchen“, beharrte der Fremde und fuhr sich durch die blonden Haare. Ben antwortete nicht.
    „Ich kenne mich da aus.“ Der Mann wies zur Klinik. „Soll ich dich zu einem Arzt bringen?“
    „Nein“, brachte Ben heraus. „Nicht nötig.“
    „Schlimmer Tag, wie? Manchmal ist es wie verhext, da kommt alles zusammen, kenn ich. Wird schon wieder werden.“
    „Nein“, widersprach Ben flüsternd. „Das wird es nicht. Meine Eltern sind tot, sie …“ Er brach ab und setzte sich in Bewegung. Er musste mit der Ärztin sprechen.
    „Das tut mir leid, ehrlich“, fuhr der Mann fort und lief hinter Ben her. „Sind sie hier? Willst du sie vielleicht noch einmal sehen?“
    Ben drehte sich um und sah dem Mann nachdenklich in die Augen. „Geht das denn einfach so?“
    „Nicht einfach so, nein. Ich arbeite in der Klinik. Ich könnte dich in den Kühlraum bringen.“ Er machte eine Pause. „Weißt du, manchmal hilft es dabei, Abschied zu nehmen.“
    Ben dachte an das letzte Bild, das er von seiner Mutter hatte. Wie sie reglos auf dem Fußboden lag, mit dem Einschussloch in der Brust. Vielleicht hatte der Mann Recht, vielleicht sollte er es tun. Ihr ein letztes Mal ins Gesicht sehen, ohne die Verfolger im Nacken zu wissen.
    Er nickte zaghaft und folgte dem unablässig redenden Mann in die Klinik. Der Mann ließ ihn einen Moment neben seinem Spind warten, zog sich einen hellblauen Kittel über und ging mit Ben zum Fahrstuhl.
    Ben zögerte. „Können wir die Treppe nehmen?“, fragte er verlegen.
    „Klar.“ Der Pfleger lachte.
    Sie kamen ins erste Untergeschoss, liefen über einen menschenleeren dunklen Flur und passierten eine codegesicherte Glastür. Der Pfleger lief noch ein kleines Stück, dann öffnete er eine unscheinbare Metalltür und zeigte auf den Türspalt.
    „Da ist es“, murmelte er und stieß Ben in einen winzigen fensterlosen Raum.
    Der Junge fiel auf die Knie, kam jedoch schnell wieder auf die Beine und rannte zur Tür zurück, aber sie war bereits

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