Götterdämmerung (German Edition)
nichts. Plötzlich war er mit seinen Eltern allein gewesen und es hatte ihn nicht gestört. Er hatte nicht einmal darüber nachgedacht. Alles schien so zu sein wie es sein sollte. Aber war es nicht seltsam? Warum hatte er die Schule überhaupt verlassen? Sein Vater meinte, er wüsste mehr, als er dort noch würde lernen können, aber er war nie ein herausragend guter Schüler gewesen, eher im vorderen Mittelfeld.
Der Junge schüttelte den Kopf und rieb sich die Stirn. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass mit dem Tod seiner Eltern nicht nur die Welt, die er kannte, zerstört, sondern sein gesamtes Denken beeinträchtigt worden war.
Es dämmerte. Die Fahrzeuge begannen ihre Scheinwerfer einzuschalten. Ein rochenförmiges Flugzeug schwamm blinkend durch die aufgetürmten Wolken. Der Wind hatte noch einmal an Kraft zugelegt und sich in einen ausgewachsenen Sturm verwandelt. Er jagte eine zerbrochene Bierflasche, Plastiktüten und Kaugummipapier quer über den Weg. Dachziegel krachten hinter Ben auf den Fußweg. Der Junge stemmte sich gegen den Wind, der ihn am Weiterlaufen hindern wollte. Er würde eine Unterkunft brauchen. Allerdings nicht zum Schlafen. Schlafen konnte er nach den Erlebnissen des letzten Tages ohnehin nicht, so erschöpft er auch war. Er ahnte nicht, mit wie vielen Menschen in der Stadt er dieses Problem gemeinsam hatte.
Er dachte an die Paycard in seiner Jackentasche und wandte sich in Richtung Hauptbahnhof. Dort gab es preiswerte Obdachlosenunterkünfte. Und niemand stellte Fragen. Vorher aber musste er unbedingt noch ein paar Nachforschungen anstellen.
Ein Summen riss ihn aus seinen Gedanken. Es stammte von einer Spähdrohne der Polizei, die auf ihrem Rundflug den Himmel über ihm passierte. Ben senkte den Kopf und hoffte, dass er nicht auffiel und dass die Drohne nicht viel von ihm aufnehmen konnte. An der nächsten Ecke befand sich ein kleines Café, das kaum Gäste hatte. Er betrat den kleinen Gastraum und suchte sich einen Tisch ganz hinten in der Ecke, von dem aus er die Umgebung im Auge hatte. Das Café war fast leer. Ein Pärchen stand gerade auf und ging. Ansonsten gab es nur noch einen Mann, der mit dem Rücken zu ihm saß und in seinem E-Panel las. Gut.
Ein Roboter, der optisch an einen Kegelstumpf mit Armen und Beinen erinnerte, brachte ihm ungefragt ein Glas Wasser. Ben nahm ihm das Glas ab, bedankte sich und betrachtete die einfache und abstrakt gehaltene Inneneinrichtung: Skulpturen aus Zahnrädern und Schrauben, die wohl Tiere darstellen sollten. Kunstblumen mit würfelförmigen Blüten. Vasen, die an Reagenzgläser erinnerten. Auf zwei Monitoren liefen in Endlosschleife Bilder der geplanten Marsstation. Die Stühle waren hart und hatten zu niedrige Lehnen. Eine schwarze Tür führte in einen Bereich, in dem gegen Computer gespielt werden konnte. Es roch nach künstlich verteilten Kaffeearomen.
Ben wandte sich dem Bedienfeld auf der Tischplatte zu und bestellte eine Cola. Nach einer Weile kam eine hübsche junge Frau mit Jeans und rot karierter Schürze auf ihn zu und brachte ihm sein Getränk.
„Kann ich dir vielleicht noch was anderes bringen?“, erkundigte sie sich freundlich. „Etwas zu essen vielleicht?“ Ben schüttelte den Kopf. Er wollte im Moment nichts essen, nur in Ruhe nachdenken.
Sobald die Frau sich entfernt hatte, loggte er sich ins Internet ein. Das war standardmäßig von jedem Platz aus möglich. Schnell hatte er den Fahndungsaufruf und sein Foto gefunden. Er fand jedoch keine zusätzlichen Informationen, nur das, was er schon auf der Nachrichtentafel gelesen hatte. Ben seufzte und öffnete die Homepage des Ordnungsamtes. Er dachte an die Ärztin im Krankenhaus und an ihre Bemerkung ihm gegenüber: Sie sind nicht vermerkt.
Vielleicht nur ein Fehler in der Krankenhausdatei. Er hatte seine Sozialversicherungsnummer im Kopf und tippte sie ein: M30217L4981267TA.
„Nummer ungültig“ meldete das Netz. Ben versuchte es erneut. Die gleiche Meldung.
Wieso kennt der Computer meine Nummer nicht? , dachte er beunruhigt. Er versuchte es mit seinem Namen: Ben Maiwald. Es gab fast vierundsiebzigtausend Einträge. Also fügte er sein Geburtsdatum hinzu: 13. März 2030. Fehlanzeige. Das Programm verzeichnete zwar einige Hundert Einträge, aber nichts, was zu ihm passte. Meist stimmte nicht einmal der Vorname. Er tippte die Namen seiner Eltern ein. Zu Vera Maiwald gab es immerhin fünf Einträge, zu Hendrik mehrere Hundert. Hauptsächlich wissenschaftliche
Weitere Kostenlose Bücher