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Götterdämmerung (German Edition)

Götterdämmerung (German Edition)

Titel: Götterdämmerung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Schwarzer
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die Augen. Ihr Blick wirkte verschwommen, fast glasig, aber das täuschte. In Wirklichkeit war sie bei klarem Verstand. Sie wusste genau, was zu tun war.
    „Maria!“, rief sie laut. „Maria!“
    Sofort öffnete sich die Badezimmertür und ein Mädchen betrat den Raum. Sie war dreizehn, sah jedoch jünger aus, was an ihrem zierlichen Körper und den großen dunklen Augen lag.
    „Möchtest du, dass ich dir die Haare einschäume?“, fragte das Mädchen und setzte sich neben die Alte auf die Kante der Badewanne. „Bist du denn schon fertig, Omi?“
    „Nein, nein“, murmelte die Frau und richtete sich so weit auf, wie es ihr Rücken zuließ. Das Mädchen beugte sich zu ihr hinunter und legte ihr eine Hand auf die Wange.
    „Ich möchte, dass du mir ganz genau zuhörst!“, sagte die Alte. Das Mädchen nickte.
    „Ich bin alt geworden und –“
    „Aber du bist doch noch nicht alt, Omi“, protestierte Maria.
    „Doch, das bin ich.“ Die Alte lächelte, nahm die Hand des Mädchens von der Wange und drückte sie zärtlich. „Ich bin alt. Und ich fühle mich alt. Ich weiß nicht, wie lange ich noch bei dir bleiben kann. Deswegen sollst du mir jetzt zuhören.“
    Maria zog die Hand zurück und wollte erneut protestieren, doch die Alte schüttelte den Kopf.
    „Scht. Sei still! Ich meine es ernst. Ich möchte, dass du deine Sachen packst und zu meiner Schwester aufs Land ziehst. Sie wird sich um dich kümmern.“
    „Aber warum denn? Ich möchte nicht weg. Ich will hier bei dir bleiben.“
    „Hier bist du allein. Niemand kann auf dich aufpassen.“
    Das Mädchen sprang auf und lief mit abgewandtem Kopf im Zimmer hin und her. „Auf mich muss keiner aufpassen“, sagte es. „Ich bin fast vierzehn. Und bald bin ich erwachsen. Ich will hier bleiben.“
    Die Alte seufzte. Sie hatte damit gerechnet, dass es schwer werden würde, das Mädchen zu überzeugen.
    „Dann versprich mir, dass du nach meinem Tod das Haus nicht verlässt! Du musst mindestens einen Tag lang warten. Merk dir das! Versprich es mir!“
    Das Mädchen lief zu der Alten und kniete sich vor die Badewanne. „Ich verspreche es“, flüsterte es tonlos. Dann schlang es die Arme um die Alte und drückte sie an sich, als könnte sie mit dieser Geste den Tod vertreiben, der sich bereits in ihrer Nähe herumtrieb und auf einen günstigen Moment lauerte.
     
    •
     
    Die Informationstafel befand sich an der Vorderseite eines unscheinbaren fensterlosen Gebäudes. Sie nahm fast die gesamte Breite des Hauses ein und reichte bis zum sechsten Stock, damit auch die Autofahrer auf der anderen Seite der sechsspurigen Straße sie mühelos erkennen konnten.
    „ Im Zusammenhang mit mehreren Mordfällen dringend gesucht“ , stand in dicken roten Buchstaben über dem Foto. „Der Gesuchte nennt sich Ben Maiwald und wird gebeten, sich umgehend auf der nächsten Polizeiwache zu melden, ebenso Zeugen, die Angaben zum Aufenthaltsort des Gesuchten machen können.“
    Sonst nichts. Keine Einzelheiten.
    Ben starrte fassungslos auf sein überdimensional vergrößertes Foto. Es stammte aus dem Zimmer der Ärztin, eine Aufnahme der Überwachungskamera. Vorsichtig drehte er sich um. Der Fußweg war leer. Die Ampel, die den Verkehr je nach Verkehrsdichte selbsttätig regelte, hatte gerade auf Grün geschaltet. Hin und wieder fuhr ein Auto oder einer der kleinen Elektrobusse vorbei, aber da er mit dem Rücken zur Fahrbahn stand, war es unwahrscheinlich, dass den Insassen die Ähnlichkeit der beiden Gesichter auffiel.
    Hatte Ben bisher mit dem Gedanken gespielt, doch noch nach Hause zurückzukehren, so gab er ihn in diesem Moment endgültig auf. Die Polizei würde die Villa bewachen. Dazu mussten nicht einmal Leute abgestellt werden. Diese Aufgabe konnte ebenso gut von Überwachungssystemen übernommen werden. Nun hatte er nicht mehr nur die Fremden auf dem Hals – die Polizei war ebenfalls hinter ihm her.
    Mit gesenktem Kopf ging Ben die Straße entlang. Er fühlte sich einsam und schutzlos. Was er auch tun würde, es kam ihm sinnlos vor. Nie zuvor war ihm aufgefallen, wie sehr er auf seine Eltern angewiesen war. Er dachte an früher, als er noch Freunde hatte. Sie hatten ihn beinahe jeden Tag in dem großen Haus besucht. Meistens hatten sie Autorennen gespielt. Oder funktionstüchtige motorgetriebene Flugzeuge gebaut. Doch seit er die Schule verlassen hatte, vor zwei Jahren, war der Kontakt abgebrochen. Warum nur?
    Ben versuchte, sich an den Auslöser zu erinnern, aber er fand

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