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Götterdämmerung (German Edition)

Götterdämmerung (German Edition)

Titel: Götterdämmerung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Schwarzer
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Krachen kam aus dem hinteren Teil des Lagerhauses, etwa hundert Meter von ihnen entfernt. Es kam von der Tür.
     
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    Ben stand mit fünf anderen Kindern auf der großen Bühne im Kindergarten. Er war sechs Jahre alt. Sie führten ein Märchen auf. Der Raum war voller Leute, die lächelnd zu ihnen heraufblickten. Dicht gedrängt saßen sie auf Bänken und zu kleinen Stühlen. Manche winkten, andere bewegten kaum eine Miene. Die Kinder spielten das Märchen von Rotkäppchen und dem bösen Wolf, aber er hatte nur eine winzige Statistenrolle bekommen. Am liebsten wäre er natürlich der Wolf gewesen oder wenigstens der Jäger. Der hatte immerhin ein Gewehr. Stattdessen musste er als dämliche Tanne, mit einem grünen Pappumhang versehen, still auf der Bühne ausharren. Vera, seine Mutter saß ziemlich weit hinten im Raum, er sah nicht viel mehr von ihr als einen kleinen Ausschnitt des Gesichts. Ein Auge, eine halbe Wange, ein paar Haare. Aber er freute sich, dass sie da war. Sein Vater wollte beide später abholen. In der Nähe des Kindergartens gab es ein neues Café, das herrliches italienisches Eis verkaufte. Bei dem Gedanken daran lächelte Ben und hatte seine kleine Statistenrolle beinahe vergessen. Er überlegte, welche Sorte er nehmen würde. Schoko auf jeden Fall und dann Banane – oder doch lieber Nuss?
    Während er überlegte, veränderte sich die Umgebung. Ein kühler Wind blies ihm ins Gesicht. Seine Mutter verschwand hinter dem Rücken der Frau vor ihr und als sie wieder zu sehen war, hatte sie sich verwandelt. Ihr dunkles Haar war jetzt blond und in der Mitte gescheitelt. Statt des blauen Pullovers trug sie einen dünnen Sommermantel. Und sie saß auch nicht mehr. Sie stand direkt vor ihm.
    „Das hast du gut gemacht“, lobte sie ihn. „Auch wenn du dich zweimal versprochen hast. Ist nicht so schlimm.“
    Er sah sich um, betrachtete die Bühne, die mitten auf dem Marktplatz aufgestellt war, froh, den Auftritt hinter sich gebracht zu haben und stolz darauf, dass er sich nicht noch öfter verhaspelt hatte. Es machte ihm nichts aus, vor vielen Leuten aufzutreten, wenn er sie kannte. Aber dieser Auftritt auf dem Marktplatz war schon etwas Besonderes. Er war jedenfalls froh, einen genügend großen Abstand zwischen sich und die Bühne gebracht zu haben. Er nahm die Hand seiner Mutter und für einen Moment lang verwandelte sich die Frau zurück in Vera. Die Haare wurden dunkler, die Gesichtszüge härter, aber nach nur wenigen Augenblicken verschwammen sie wieder. Er konnte die Erinnerung nicht halten. Veras Gesicht wurde von dem der anderen Frau verdrängt. Die Erinnerung an seinen Auftritt im Kindergarten von der Erinnerung an den Auftritt auf dem Marktplatz überlagert.
     
    „Mich gibt es zweimal“, flüsterte Ben und ließ seinen Blick durch das Café schweifen, in dem er mittlerweile der einzige Gast war. „Dabei existiere ich offiziell überhaupt nicht.“ Er rieb sich die Schläfen. Er verstand einfach nicht, woher die neuen Erinnerungen stammten. Er hatte so etwas doch früher nicht gehabt. Das Beunruhigendste war, dass er sie nicht steuern konnte. Anders als seine bisherigen Erinnerungen überfielen sie ihn aus dem Nichts heraus. Einfach so, ohne Vorwarnung. Mittlerweile fiel es Ben sogar schwer, sich an die anderen – echten – Erlebnisse zu erinnern.
    Er verzog das Gesicht. Woher sollte er überhaupt wissen, welche Erinnerungen echt waren? Aber sie konnten nicht zufällig in seinem Gehirn gelandet sein, das war ihm klar. Woher kamen sie also? War er krank? Das glaubte Ben nicht. Dafür schienen ihm die Erinnerungen zu klar. Also was war los? Hatte er zwei Leben gelebt? War er Teil eines Experimentes, von dem er nichts wusste? Das eine klang so unwahrscheinlich wie das andere. Er musste unbedingt in Erfahrung bringen, wer dieser Kai war. Wenn es ihn überhaupt gab. Im Moment wusste er nicht viel mehr über ihn, als seinen Vornamen. Er kannte Kais Eltern und das Haus, in dem er wahrscheinlich als Kind gelebt hatte. Das war alles. Nicht genug für eine Recherche.
    Er rief die Bedienung, um zu bezahlen. Die junge Frau kam sofort und buchte den Betrag für die Cola ab. Sie hatte nicht viel an ihm verdient, was Ben bewusst war, aber er musste sparsam mit seinem Geld umgehen. Langsam stand er auf und zog seine Jacke an. Die junge Frau wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab.
    „Ich bin Sophie“, sagte sie zu Ben. „Woher kommst du denn? Ich habe dich noch nie hier gesehen.“
    Ben

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