Götterdämmerung (German Edition)
entfernten.
„Sag mal, kannst du eigentlich auch sprechen?“, fragte Sophie und verzog die Lippen. „Ich hatte auf etwas Gesellschaft gehofft, Selbstgespräche kann ich auch allein führen.“
„Ich spreche fünf Sprachen.“
Sophie verdrehte die Augen. „So? Das ist super. Aber mir reicht auch eine. Du bist seltsam, weißt du das?“
Ben schüttelte den Kopf. Er besaß kein Talent für Small Talk. Sophie machte ihn nervös und im Moment hatte er andere Sorgen als perfekte oberflächliche Kommunikation. Er musste unbedingt von der Straße runter, bevor er doch noch jemandem auffiel.
„Zeigst du mir deine Wohnung?“, fragte er ungeduldig.
„Ich weiß nicht“, antwortete Sophie und spielte mit einer Strähne ihres schulterlangen blonden Haares. „Vielleicht bist du ein Freak oder so.“
Ben dachte an sein Spiegelbild im Schaufenster. Er war schmutzig. Seine Sachen zum Teil zerrissen. In seinem Kopf ging alles drunter und drüber. Er wusste nicht einmal selbst, was er von sich halten sollte.
„Vielleicht bin ich ein Freak“, antwortete er ruhig. „Aber du bist auch nicht besser. Erst bringst du mich hierher, obwohl du mich überhaupt nicht kennst und dann willst du mich einfach stehen lassen. Überleg dir nächstes Mal gleich, was du eigentlich willst!“
„Ich weiß schon, was ich will. Komm!“, sagte sie und schloss die Tür auf.
Der Korridor war fensterlos und lag im Dunkeln. Er erinnerte Ben an ein Gefängnis unter der Erde.
Geh da nicht rein , rief eine Stimme in seinem Kopf, die nicht seine eigene war, die er aber kannte. Geh da nicht rein! Es ist verboten!
Diese Stimme … Wem gehörte sie bloß?
Plötzlich war er weit weg, in einer anderen Zeit, einem anderen Leben vielleicht, so unwirklich kam ihm die Situation vor. Er hörte sich selbst lachen, halb zögernd, halb verächtlich. Mach dir nicht in die Hose , hörte er sich rufen. Wenn du Schiss hast, musst du ja nicht mitkommen.
Ben trat in den dunklen Korridor und hatte plötzlich wieder das Gefühl, dass er keine Luft mehr bekam. Er spürte ein zentnerschweres Gewicht auf seiner Brust, das ihn zu erdrücken schien. Er wollte einen Schritt zur Seite machen, konnte sich aber nicht bewegen. Verzweifelt rang er nach Atem, aber statt Sauerstoff füllte nur Staub und Erde seine Lunge. Sein Hals kratzte. Aus weiter Ferne hörte er weiterhin die vertraute Stimme, die ihn rief, aber er konnte nicht antworten und schließlich war die Stimme weg.
Ben schwankte und konnte sich gerade noch am Treppengeländer festhalten, das er irgendwie in der Dunkelheit zu fassen bekommen hatte. Nein, dass stimmte nicht. Sophie hatte Licht gemacht und sah ihn zweifelnd an.
„Alles in Ordnung?“
„Ja. Ich komme nur in dunklen, geschlossenen Räumen nicht klar. Klaustrophobie.“
„Ja, das kenne ich. Ich habe wahnsinnige Angst vor Käfern. Alles so Zeug, das krabbelt und fliegt. Brrr.“ Sie schüttelte sich demonstrativ. Ben nickte, aber er bezweifelte, dass sich ihre Furcht mit seiner Klaustrophobie vergleichen ließ. Egal. Die Panik war vorerst verschwunden. Zwei Panikattacken innerhalb eines Tages! Das stellte einen neuen Rekord dar, aber nach dem, was Ben in den letzten vierundzwanzig Stunden erlebt hatte, wunderte er sich nicht darüber. Wieder dachte er an seine Eltern, schob ihre Gesichter jedoch energisch beiseite, sobald sie auftauchten.
Nicht jetzt , sprach er in Gedanken. Ich muss erst einen Ausweg finden, dann komme ich zurück. Ich komme zu euch zurück.
Die Gesichter lösten sich auf und verschwanden.
Ben holte noch einmal tief Luft und folgte Sophie die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf. Er musste sich beeilen. Sie durfte nicht den Fernseher einschalten. Sie durfte sich nicht die neuesten Nachrichten im Internet ansehen, falls sie das vorhatte. Sie durfte nicht einmal Radio hören. Er musste sie unbedingt davon abhalten.
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Das ist alles meine Schuld!
Frank Olbrecht, der von allen nur Franco genannt wurde, stemmte sich verzweifelt gegen den Wind.
Alles meine Schuld! Er schob die Brille hoch, um sich die Tränen aus den Augen zu wischen. Olli hatte Recht. Es war dämlich, die Briefe abzuschicken. Saudämlich!
Der Sturm schleuderte ihm eine Plastiktüte gegen das rechte Bein, wo sie hängen blieb. Franco schüttelte das Bein um sie loszuwerden, aber er hatte erst Erfolg, als er sich schließlich bückte, die Tüte packte und von der nächsten Böe mitreißen ließ. Die Stadt schien verlassen, vollkommen menschenleer. Die
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