Götterdämmerung (German Edition)
Hals.
Dieser Mistkäfer , dachte er. Zum Glück war die Attacke glimpflich ausgegangen. Das Kabel hatte sich nicht tief eingeschnitten und nach wenigen Minuten war Simon aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht. Die Erinnerung an seinen missglückten Einsatz am Nachmittag holte ihn aus seinem Dämmerzustand. Simon fühlte sich nun halbwegs wach. Wenn er könnte, würde er den ganzen letzten Tag jedoch so schnell wie möglich wieder vergessen. Da hatte er seine komplette Freizeit in der Klinik verbracht, um den Jungen zu erwischen und am Ende, als der Erfolg so gut wie sicher war, hatte er alles verpatzt. Wenigstens konnte die alte Frau nicht mehr aussagen.
Er stütze das Kinn auf seine Hände und überlegte. Wie viele Zielpersonen waren ihnen bisher durch die Lappen gegangen? Nicht mehr als man an einer Hand abzählen konnte. Die meisten hatten sie früher oder später doch noch erwischt, aber mit diesem Jungen schienen sie wirklich Pech zu haben.
Was soll’s , sagte er sich. Der ist sowieso bald erledigt. Wenn ihn unsere Leute nicht erwischen, schnappt ihn die Polizei. Ist nur eine Frage der Zeit. Sie würden dann zwar nicht mehr an den Jungen herankommen, aber zumindest wäre er aus dem Verkehr gezogen. Simon hoffte allerdings, dass der nächste Einsatz besser laufen würde. Noch ein paar Reinfälle dieser Art und sie konnten einpacken. Die Sache heute Nacht musste funktionieren! Er lächelte. Nur noch ein paar Stunden und er würde seinem Ziel, in die Reihen der ganz Großen aufgenommen zu werden, ein gutes Stück näher kommen. Jener Leute, die bereit waren, ihre Karriere, ihre Arbeit, ihr ganzes Leben einer Gesellschaft zu opfern, die noch nicht wusste, dass es Zeit war, die Umstände zu ändern. Und dass eine radikale Änderung nur mit radikalen Mitteln durchzusetzen war. Er war einer von ihnen. Aber jetzt musste er los. In wenigen Minuten begann seine Schicht. Eine ganz besondere Schicht.
Simon sprang auf. Sein Magen knurrte. Er lief zum Waschbecken und hielt seinen Mund unter den Wasserstrahl. Dann wusch er sich Hände und Gesicht mit Seife und Desinfektionsmittel.
Auf dem Weg zu seiner Station spielte er in Gedanken den geplanten Ablauf noch einmal durch: Die neuen Pflegeroboter sollten gegen ein Uhr nachts geliefert werden. Die Klinik hatte diesen Zeitpunkt gewählt, um niemanden unnötig darauf aufmerksam zu machen. So wenige Angestellte wie möglich sollten erfahren, dass man sie bald durch Maschinen ersetzen würde. Das allerdings war auch die Schwachstelle des Unterfangens: Abgesehen von den beiden Fahrern und einem Logistikarbeiter, der die Fracht in Empfang nahm, würde es keine Zeugen geben. Simon wusste, dass die beiden LKW, um die es ging, nicht bewacht wurden. Schließlich handelte es sich bei der Ladung nicht um Bargeld, geheime Apparate oder die neueste Technik, sondern nur um rund sechzig recht primitive Roboter, die im Laderaum übereinander gestapelt tumb auf ihren Startbefehl warteten. Es würde ihnen ein Leichtes sein, sie ein für alle Mal zu zerstören.
Er konnte kaum erwarten, dass die Zeit verging. Unbewusst leckte Simon sich die Lippen. Kurz nach halb ein Uhr nachts wollte Oliver sich mit einem Teil der Gruppe auf den Weg machen. Wenn er in Sichtweite der Klinik war, würde er sich melden und von Simon das Passwort für das erste Tor bekommen. Dort, auf dem kurzen Stück zwischen Außentor und Liefereingang konnten sie die Fahrzeuge abpassen und die Fahrer überrumpeln. An die halbstündlich wechselnden Passwörter zu kommen, stellte dabei kein großes Problem dar. Ein paar Veränderungen am System, die Oliver bei einem Kurzbesuch vorgenommen hatte, genügten völlig. Simon konnte sich ungehindert in das Code-Programm einwählen und die Passwörter unbemerkt mitlesen. Es sollte ihn nur niemand dabei überraschen. Aber das würde nicht passieren. Nicht heute. Nichts würde seinen Plan vermasseln.
Und wenn die Sache gelaufen und seine Schicht vorbei war, würde er endlich auch seine hübsche Kollegin wiedersehen und damit den unangenehmen letzten Tag endgültig hinter sich lassen. Simon dachte an Isabelles letzten Kuss. Er hatte das Gefühl gehabt, schwerelos durch den Raum zu gleiten. Noch keine Frau vor ihr hatte das geschafft.
Bald kam er auf seiner Station an und begann den ersten Rundgang. Zwischendurch sah er auf den Chronometer: Zweiundzwanzig Uhr zehn. Er hatte noch Zeit.
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Oliver Preston warf einen Blick in die Runde: Siebenundzwanzig Männer und Frauen, die alle
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