Götterdämmerung (German Edition)
nicht aus reiner Freundlichkeit mitgenommen hatte. Sie war auf der Suche nach Abwechslung und Abenteuer, was ihn einschüchterte. Oder war es doch etwas anderes? Möglicherweise hatte sie Angst davor, allein zu sein.
Nein. Er verwarf den Gedanken. Sophie wirkte nicht im Geringsten ängstlich, ganz im Gegensatz zu ihm. Er war noch nicht mal sechzehn. Und die letzten beiden Jahre hatte er mehr oder weniger isoliert in seinem Zimmer verbracht. Er verstand nicht viel vom Leben – und gar nichts von Mädchen. Jedenfalls nichts, was über die Theorie hinausging. Das Schwierigste war, dass er nicht einmal darauf bestehen konnte, in Ruhe gelassen zu werden, denn er musste Sophie unbedingt im Auge behalten. Sie durfte nicht erfahren, was wirklich mit ihm los war. Immerhin ließ sich eine einzelne Person leichter im Auge behalten, als das in der Notunterkunft möglich gewesen wäre, wo er sich den Schlafraum mit zwei Dutzend Bedürftigen hätte teilen müssen, von denen jeder dritte wahrscheinlich den Fahndungsaufruf gesehen hatte. So gesehen, war seine Entscheidung durchaus vernünftig.
Zögernd ließ Ben das geschnitzte Holzgeländer los und trat durch die offene Wohnungstür. Die Wohnung war wesentlich größer, als es von außen den Anschein hatte. Ben stand in einem geräumigen Flur, von dem aus vier Türen abgingen. Die Tür zum Wohnzimmer stand offen und Ben registrierte erstaunt, dass es modern und teuer eingerichtet war.
Sophie stand im Flur und hängte ihre Baumwolljacke an die Garderobe. „Da bist du ja“, sagte sie und schloss leise die Tür hinter Ben. „Am besten, du nimmst erst mal eine Dusche!“ Sie zeigte auf eine Tür im Flur. Ben drehte sich schnell um und nickte. „Du kannst dir Sachen aus dem Schrank dort nehmen“, rief Sophie ihm nach. „Sie müssten dir passen. Gehören meinem Bruder.“
Fünfzehn Minuten später stand Ben an der Tür zum Wohnzimmer. Die Kleidungsstücke, eine teure Leinenhose und ein dunkelrotes Hemd passten tatsächlich, aber Ben fühlte sich unwohl darin. Verkleidet.
„Sophie?“, fragte er leise. Niemand antwortete.
Als er über die Türschwelle trat, schalteten sich automatisch die kreuzförmig an der Decke verteilten LED-Lichter an. Sie leuchteten türkis, was dem Zimmer eine eigenartige Kälte verlieh. Sophie befand sich nicht im Raum.
Ben lief um die in der Mitte des Zimmers stehenden Sessel herum zum Fenster. Eigentlich hätte er jetzt die Straße mit ihren bunt flimmernden Reklametafeln und grellen Lampen sehen müssen, aber diesen Ausblick gab es nicht. Stattdessen erstreckte sich hinter den Fensterscheiben ein endloser Strand mit Palmen im Mondschein. In der Ferne zog ein Schiff vorüber. Die Palmwedel bewegten sich im Wind. Die Wellen schlugen sanft ans Ufer, wo sie einen Teil des Sandes wegspülten und an anderer Stelle wieder aufwarfen. Er glaubte fast, ihr sanftes Rauschen zu hören und die salzige Meeresluft zu riechen, so echt wirkte das Bild.
„Gefällt es dir?“, fragte Sophie, die lautlos hinter ihn getreten war. Ben betrachtete die Wellen und nickte.
„Mein neuestes Programm. Vorher hatte ich eins vom Meeresgrund mit einer Aussicht wie aus dem U-Boot. War auch ganz nett, aber irgendwann hatte ich das Gefühl, unter Wasser eingesperrt zu sein.“ Sie lachte. „Wahrscheinlich hat mir das Licht gefehlt.
„Es ist wirklich schön“, sagte Ben und dachte an seine Eltern, die immer gegen eine derart künstliche Welt gewesen waren. Na ja, schließlich konnten sie von ihren Fenstern aus auch in einen riesigen Garten schauen und mussten nicht das Flackern und Flimmern der zahlreichen Reklametafeln in der Straße ertragen, das die Umgebung beinahe wie Tageslicht erhellte. Er zwang seinen Blick weg von der computeranimierten Aussicht und drehte sich zu Sophie um. Sie hatte ihre Jeans ausgezogen und stand nur mit Slip und T-Shirt bekleidet vor ihm. Ben drehte schnell den Kopf zur Seite. Sein Gesicht schien zu glühen.
„Setz dich!“, sagte Sophie. „Willst du etwas trinken?“
„Was? Äh … Nein. Erst mal nicht“, brachte Ben heraus. Er ließ sich auf die beigefarbene Couch fallen und überlegte krampfhaft, was er trinken sollte, falls sie noch einmal fragte. Wie konnte die Antwort auf so eine einfache Frage bloß derart schwierig sein?
Ihm fiel die große gläserne Kuppel auf, die im mittleren Teil der Decke eingebaut und geschlossen war. An der Wand gegenüber flackerte Feuer in einem Kamin, der in die Wand eingelassen und größer war,
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