Götterdämmerung (German Edition)
ließ. Nick lag still in seinem Korb und beobachtete Tom durch halb geschlossene Lider. Er schien zu spüren, dass seinem Besitzer nicht nach Spielen zumute war.
Tom stand auf. Er wollte sich ein Schmerzmittel holen und dann nach Nina sehen.
Im Bad fand er eine angebrochene Packung Aspirin XL. Er drückte zwei Tabletten aus der Folie und verschlang sie gierig. Dann wusch er sich das Gesicht und schüttelte die Erinnerungen an die letzten Stunden aus seinen Gedanken. Doch sobald der Wasserstrahl versiegte, kehrten die Bilder zurück. Tom hob den Kopf und betrachtete im Spiegel sein stoppeliges, erschöpftes Gesicht. Dann fuhr er mit dem Zeigefinger die Falte zwischen Nase und Mundwinkel nach, die sich in den letzten Stunden noch tiefer eingegraben hatte.
Ich muss endlich nach Nina sehen , dachte er. Er trat einen Schritt vom Waschbecken zurück und blieb wieder stehen. Er glaubte zu wissen, was er im Schlafzimmer vorfinden würde und konnte sich nicht dazu durchringen, dem ins Auge zu sehen.
Sie schläft , redete er sich ein. Ich will sie nicht wecken. Seine Beine fühlten sich an, als wären sämtliche Muskeln geschrumpft und die Knochen durch Gummi ersetzt worden. Geh endlich!
Mit gesenktem Kopf verließ er das Bad, schlurfte über den Flur, ohne das Licht anzumachen und öffnete die Schlafzimmertür. Das Nachtlicht brannte. Nina lag bis zum Kinn zugedeckt im Bett. Die trüben Augen waren auf ihn gerichtet.
„Hallo“, sagte Tom und trat näher. Nina bewegte sich nicht. Auch ihre Augen bewegten sich nicht. Plötzlich begann Tom zu schwitzen, er riss die Bettdecke weg und suchte ihren Puls. Er war schwach, aber fühlbar.
Mit zitternder Stimme benachrichtigte er den Rettungsdienst.
Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis der Rettungsdienst endlich eintraf. Anders als sonst üblich, handelte es sich bei sämtlichen Sanitätern um Roboter. Eigentlich wollte Tom seine Frau in die Klinik begleiten, aber das lehnten die Roboter ab. Es fiel ihm schwer, Nina der Obhut der Maschinen anzuvertrauen, aber da er sie ebenso wenig hier lassen konnte, willigte er schließlich ein.
Wenige Minuten nachdem sie verschwunden waren, hämmerte es an der Tür.
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In dieser Nacht fand Ben keinen Schlaf, obwohl auch sein Gehirn eine Ruhephase benötigte, wie Max ihm erklärt hatte. Bisher hatte er sich jede Nacht wie selbstverständlich hingelegt, die Augen geschlossen und tatsächlich einen traumähnlichen Zustand erreicht: Ein Ruhemodus mit Bildern aus seinen Erinnerungen, die neu zusammengesetzt wurden. Aber waren Träume nicht eigentlich genau das? Also inwieweit unterschied er sich überhaupt von den Menschen? Er hatte einen Körper, der dem menschlichen perfekt nachgebaut worden war. Seine Haut fühlte sich weich und warm an. Er konnte denken und fühlen. Sogar essen und trinken, wenn er es wollte. Bis vor wenigen Stunden war er sich absolut sicher gewesen, ein Mensch aus Fleisch und Blut zu sein. Nichts von dem, was ihn tatsächlich unterschied, war ihm aufgefallen: Dass er sich äußerlich nicht veränderte. Dass er eigentlich kein Essen und Trinken benötigte. Dass er keinen menschlichen Eigengeruch besaß. Alles das war von den komplizierten Programmen, die ihn steuerten, ausgeblendet worden. Aber es war auch sonst niemandem aufgefallen. Sophie war irritiert gewesen, weil sie ihn älter eingeschätzt hatte. Nicht weil er sich anders als ein Mensch angefühlt hatte. Sie hatte nicht bemerkt, dass seine Stimme künstlich erzeugt wurde. Dass sein Atem unecht war. Also was war er wirklich? Ein Roboter?
Eigentlich hoffte Ben nur, dass die Nacht bald vorüber ging, damit er sich anständig von den Leuten im Schloss verabschieden konnte. Das war er ihnen schuldig, nachdem sie ihn vor der Polizei geschützt und ihm erzählt hatten, was sie wussten. Zumindest einen Teil seiner Fragen hatten sie beantwortet. Natürlich hatte Monica recht. Es war leichtsinnig, in die Stadt zurückzukehren, wo er immer noch wie ein Verbrecher gesucht wurde und keine Zuflucht hatte. Aber die vielen noch offenen Fragen fraßen an ihm wie Parasiten.
Ben sprang auf und schaute aus dem Fenster auf der Suche nach dem ersten Streifen Morgenlicht. FUOP-TECH. Das war sein nächstes Ziel. Danach wollte er noch einmal zu dem geheimnisvollen Haus gehen, in dessen Nähe Max ihn gefunden hatte.
Mein Haus , dachte er mit fremder Stimme. Es war die Stimme eines Mannes Mitte dreißig. Kais Stimme.
Ich möchte nach Hause , sagte Kai. Und dann sagte er noch
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