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Götterdämmerung in El Paso (German Edition)

Götterdämmerung in El Paso (German Edition)

Titel: Götterdämmerung in El Paso (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick DeMarinis
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Verhalten bei ansonsten anständigen Bürgern erlebt, um zu der Überzeugung zu gelangen, dass die meisten Menschen auf die eine oder andere Art haltlos sind in ihrem Denken. Eine Annahme, die man als Grundlage dessen betrachten sollte, was einen tagtäglich erwartet. Auf diese Weise kann man kaum einer Täuschung aufsitzen.
    Andererseits darf man nicht den Glauben daran verlieren, dass Menschen zumindest zeitweilig vernünftig handeln, dass die Welt Regeln unterworfen ist, die auf Vernunft basieren, und dass die Verbindungen von A nach B zuverlässig, wenn auch nicht immer geradlinig sind.
    Andernfalls wäre alles in Auflösung. Es gibt kein Zentrum. Ein zartes Band zeitweiliger Vernunft hält die Dinge zusammen. Es ist eine Art Glaubensbekenntnis. Ein armseliges zwar, aber es ist alles, was ich habe.
    Nehmen wir den Matador, zum Beispiel. Er verkauft Zeitungen gegenüber dem Coronado-Einkaufszentrum an der Mesa Street.
    Ich hatte den Vormittag bei meiner verwirrten Mutter zugebracht und war auf dem Weg in die Innenstadt, um im Hollywood Mittag zu essen, als der kleine Kerl mitsamt seiner prall gefüllten Zeitungstasche von der Mittelinsel auf mich zugeschossen kam. Ich machte einen Schlenker und rammte beinahe einen grünen Suburban. Der Schlenker wäre nicht notwendig gewesen. Ich kannte das Vorgehen des Matadors, nur hatte er mich dabei erwischt, wie ich geistesabwesend hinter dem Steuer saß und über Velmas jüngste Erscheinungen sinnierte.
    Eine aufgeklappte Zeitung wie eine Muleta in der Hand, bewegte sich der Zeitungsverkäufer tanzend von meinen Vorderrädern weg, vollführte dabei eine Veronica, die der Menge in der Plaza de Toros von Juárez »Olés« entlockt hätte. Der Matador der Mesa Street. In seiner eigenen Welt zu Hause.
    Die Ampel sprang auf Rot und ich hielt an. Ich ließ mein Seitenfenster herunter und kaufte eine Zeitung. »Para usted, señor — cincuenta centavos, nomás«, sagte er — für Sie nur fünfzig Cent. Ein kleiner Scherz seinerseits: Fünfzig Cent war der Preis der Zeitung. Ich gab ihm einen Dollar; er behielt das Wechselgeld.
    Der Matador war um die sechzig, vielleicht auch siebzig, und er machte den Eindruck, als kenne er sich aus in einer Arena. Sein graues Haar war zur klassischen Coleta gebunden und seine Leichtfüßigkeit war die eines Ballettmeisters. Die meisten Leute fanden Gefallen an seiner Vorstellung, manche hingegen drückten verärgert auf die Hupe. Als die Ampel auf Grün sprang, wurde aus ihm wieder der Matador, der, auf Zehenspitzen balancierend, vor den Kühlern heranfahrender Autos mit seiner Zeitung wedelte, sie anfeuerte, dabei perfekte Veronicas präsentierte, jedes Mal, wenn ein Wagen passierte, und so tat, als verberge sich unter seiner papiernen Muleta ein Degen, ein Estoque, bereit, in die schimmernden Motorhauben und gleichsam in die Eingeweide der Motoren versenkt zu werden.
    War er verrückt? Ja. Nein. Vielleicht. Nicht selten phantasieren sich verrückte Menschen ihr Leben zusammen, die meisten jedoch tun es plump, ignorieren dabei nicht nur Fragen der Logik und des Stils, sondern auch das Eigeninteresse. Ein Künstler wie der Matador erfand sich selbst mit Anmut und Witz.
    Verrückt oder nicht, der Matador hatte Spaß am Leben. Wenn er dem Maßstab entsprach, den die Welt an Verrückte anlegte, war es arm bestellt um diese Welt.
    In einer anderen Stadt, zu einer anderen Zeit wurde ein nachweislich zurechnungsfähiger Mann dazu verdonnert, seinen domestizierten Schimpansen in einen Privatzoo zu geben, nachdem das Tier einem Freund des Mannes einen Finger abgebissen hatte. Der Mann erhielt Besuchsrecht und beglückte den widerspenstigen Schimpansen zu seinem Geburtstag mit einem Kuchen. Der Mann hatte den Schimpansen stets wie ein eigenes Kind behandelt.
    Zwei ausgewachsene Schimpansen, ein Männchen und ein Weibchen, bewohnten den Käfig neben dem Geburtstagskind. Sie beäugten das glückliche Wiedersehen. Und ihnen gefiel nicht, was sie sahen.
    Wie wir Menschen sind Schimpansen eifersüchtig, sie verteidigen ihr Revier, reagieren empfindlich auf Kränkungen und sind angriffslustig. Vielleicht ging den beiden etwas wie das hier durch ihren Menschenaffenschädel: Was bildet sich dieser Scheißkerl ein, versorgt diesen Neuling von niederem Rang mit Leckerbissen? Hier haben wir den Hut auf! Warum bringt uns dieser Mensch keinen Respekt entgegen?
    Zu diesem Zeitpunkt handelte es sich vermutlich nur um ein Herumnörgeln. Doch dann beging der nachweislich

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