Götterdämmerung in El Paso (German Edition)
kann darüber nicht sprechen«, sagte sie.
»Und worüber kannst du sprechen?«
»Rhabarberkuchen.« Zu ihren Ausweichmanövern gehörte auch plötzliches Abbiegen bei voller Geschwindigkeit. Ich zog mit.
»Rhabarberkuchen?«, wiederholte ich.
»Als du klein warst, wolltest du meinen Rhabarberkuchen nicht essen«, sagte sie. »Für dich war Rhabarber ein saures Wort und ein Kuchen, der aus einem sauren Wort gemacht wurde, musste deiner Ansicht nach ein saurer Kuchen sein. Darauf hast du beharrt. Du hast immer sensibel auf den Klang der Worte reagiert, nicht auf ihre Bedeutung. Daran bin ich schuld. Ich habe dich angehalten, vernünftig zu sprechen und die Sprache zu achten. Sprache ist ein kostbares Geschenk. Heutzutage scheint das niemandem mehr gegenwärtig zu sein. Sprache hat den Menschen befähigt, sich seiner selbst bewusst zu werden. Und so hat sie ihm auch ein Gewissen gegeben. Am Anfang war das Wort. Das Wort hat uns nicht nur gelehrt, das eine vom anderen zu unterscheiden, sondern auch richtig von falsch. Rhabarber, das Wort hat dir Übelkeit verursacht.«
»Aber als ich irgendwann doch Rhabarberkuchen gegessen habe, war es für mich der beste Kuchen überhaupt. Vor allem, wenn du ihn mit Erdbeeren gemacht hast und Eis obendrauf.«
»Jetzt ist keine Erdbeersaison«, sagte sie.
»Alles und jedes hat seine Saison, Mom.«
Plötzlich unterhielten wir uns in einer Art Geheimsprache, doch ich war mir nicht sicher, ob Velma das durchblickte.
»Im El Descanso kannst du jeden Tag Erdbeeren essen. Fernie Peralta wird dich anrufen. Er ist in Ordnung, Mom. Es wird Zeit, dass wir es anpacken.«
»Die Zeit ist aus den Fugen«, sagte sie.
»Hör dir einfach an, was Fernie zu sagen hat, ja?«
Sie legte auf.
Das Motel verfügte über einen Swimmingpool, also ging ich schwimmen. Ich hatte keine Badehose dabei, aber meine olivgrünen Boxershorts waren selbst im nassen Zustand ganz passabel. Das Schwimmen bereitete mir Schmerzen, hatte aber auch eine therapeutische Wirkung. Am nächsten Morgen fühlte ich mich halbwegs wie ein Mensch. Ich fuhr hinaus zur Universität. Es war Sonntag und ich hatte den Campus für mich allein. Ein Aufenthalt in Bhutan, die besondere Luft des west-texanischen Himalajas, war genau das, was ich jetzt brauchte, um Ordnung in meine Gedanken zu bringen.
Ich stellte den Wagen auf dem südlichen Parkplatz des Campus ab und stieg den Hügel zum Old Main hinauf, dem Gebäude, das einem Dzong am meisten ähnelte. Ein leichter Wind strich durch die Büsche und Sträucher der parkähnlichen Anlage. Ich setzte mich auf eine Bank und ließ den Zauber des Ortes auf mich wirken. Ich musste die Ereignisse der letzten Woche durchdenken, Revue passieren lassen, und zwar mit klarem Blick.
Am Fuße des Hügels bewegte sich ein Mönch auf Worrell Hall zu. Ein Windstoß verfing sich in seinem safrangelben Gewand und für einen kurzen Augenblick befürchtete ich, der Mönch könnte hinfallen. Das Gewand bauschte sich und statt zu fallen, schien der Mönch wie ein übergroßer Schmetterling Richtung Eingangstür zu flattern.
»Ein wunderbarer kleiner Campus, meinen Sie nicht auch, Mr. Morgan?«
Hinter mir stand der Texas Ranger, der Luther aufgesucht hatte. Kein raschelndes Blatt, kein knackender Zweig unter seinen Schuhen hatten ihn verraten. Robert T. Eggers setzte sich neben mich auf die Bank und nahm den Stetson ab.
»Sie warten darauf, dass sie auftaucht?«, fragte er.
»Wie bitte?«
»Ich spreche von Mrs. Penrose.«
»Nein«, sagte ich. »Es ist Sonntag.«
»Manche Lehrkräfte kommen auch sonntags vorbei. Haben Sie eine Idee, wo sie sein könnte?«
»Wieso sollte ich?«
»Heißt das nein?«
»Man könnte es so auffassen.«
»Zweifellos sind Sie mit dem Begriff ›Behinderung der Justiz‹ vertraut. Hierbei handelt es sich um einen alten Rechtsstandard und ein einigermaßen probates Mittel der Strafverfolgung.«
»Wollen Sie wissen, was ich denke? Ich denke, Hector Martinez ist tot. Die Sache hat sich erledigt. Es gibt keinen Grund, Mrs. Penrose länger zu verfolgen.«
»Gesetzt den Fall, er ist tot — die Frau wird dennoch um eine Anklage wegen Beihilfe und Begünstigung nicht herumkommen. Aber vielleicht vertreten Sie ja die Ansicht, man sollte unsere Gesetze selektiv anwenden.«
»Ich kann Ihnen nicht helfen, Officer. Martinez ist Futter für die Ameisen in der Wüste, das ist meine Überzeugung.«
»Ich bin sicher, dass wir die Frau finden. Und wenn wir sie finden, finden wir auch
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