Götterdämmerung in El Paso (German Edition)
eine Menge Fälle dieser Art verhandelt. Im Allgemeinen entscheidet er zugunsten der alten Leute. Wenn sie einen Scheck unterschreiben können und allein zur Toilette finden, lässt er sie laufen. Ist ’n alter Cowboy, der es nicht mag, wenn die Regierung ihre Nase in die Angelegenheiten der Bürger steckt. Unabhängigkeit steht ganz oben auf seiner Liste.«
»Wie komme ich dahin?«
Fernie erklärte es mir.
Als ich den kleinen Verhandlungssaal im Bezirksgericht betrat, war die Anhörung bereits im Gange. Velma saß neben Pilar Mellado. Sie sah so winzig aus, so zerbrechlich, aber keineswegs verängstigt. In derselben Reihe, ein Dutzend Sitzplätze entfernt, saßen zwei Männer und eine Frau. Fernie stand an der Richterbank und sprach in leisem Ton mit Richter Carstairs. Carstairs, ein Mann mit ausgeprägten Wangenknochen, ähnelte eher einem Footballtrainer als einem Richter. Er war leger gekleidet, trug ein gelbes Hemd mit Druckknöpfen aus Perlmutt und dazu ein Bolo-Tie. Er hatte einen breiten Mund, der Wohlwollen suggerierte, und die Hakennase eines alten Haudegens. Fernie, klein und flink, kam zurück, um hinter Pilar Mellado Platz zu nehmen. Ich setzte mich zu ihm.
»Sind das da die Offiziellen?«, flüsterte ich und deutete auf die beiden Männer und die Frau.
»Das sind die sogenannten Entscheidungsträger der Adult Protective Services. Sie haben Carstairs gerade ihren Bericht vorgelegt.«
Fernie öffnete seinen Aktenkoffer und holte einige Papiere heraus. »Deine Mom hat sich geweigert, die Papiere zu unterschreiben, die dir die Vormundschaft übertragen würden. Genauso bei der Vollmacht. Jetzt hängt alles am Richter. Velma ist eine ganz reizende Person. Es tut mir so leid, dass ihr die ganze Sache über euch ergehen lassen müsst.«
Richter Carstairs sah von dem Bericht auf. Er nahm seine Lesebrille ab und legte sie auf die Papiere.
»Mrs. Morgan, können Sie mir einen Grund nennen, weshalb Sie aufgehört haben zu essen?«
Velma erhob sich. Sie hatte eines der Kleider angezogen, die sie immer in der Schule getragen hatte, und knöchelhohe Turnschuhe. Ihr weißes Haar war straff zurückgekämmt und wurde von bernsteinfarbenen, mit Gänseblümchen aus Plastik verzierten Haarspangen gehalten. »Was ich esse«, sagte sie, »wie viel ich esse und wann ich esse, ist meine Privatangelegenheit, Sir. Das geht nur mich etwas an.«
»Das ist richtig, Ma’am. Auf der anderen Seiten rückte es das County in ein merkwürdiges Licht, wenn nicht sogar in die Nähe schuldhaften Verhaltens, wenn wir Ihnen gestatteten, sich zu Tode zu hungern. Meinen Sie nicht auch?«
»Ich versuche, etwas abzunehmen«, erwiderte sie. »Ist das jetzt strafbar?« Lügen war nicht ihre starke Seite. Es machte sie eher verdächtig, als dass es sie ehrenwert erscheinen ließ. Sie sah hinunter auf ihre Turnschuhe.
Der Richter blätterte in den Papieren. »Wenn ich recht verstehe, hat Ihr verstorbener Gatte Sie angewiesen, nicht zu essen. Können Sie das bestätigen?«
»Was mein verstorbener Gatte mir sagt oder was ich ihm sage, ist ebenfalls eine Privatangelegenheit«, erwiderte Velma und stieg auf ihr hohes Ross, das allerdings mehr ein klappriger Gaul war.
»Ich verstehe. Führen Sie oft vertrauliche Gespräche mit Ihrem verstorbenen Gatten?«
»Nicht oft. Nur wenn ihn etwas beschäftigt. Er ist sehr einsam in der Dimension, in der er sich aufhält.«
»Verzeihen Sie, Mrs. Morgan, aber Ihr Gatte ist verstorben«, sagte der Richter milde. »Das verstehen Sie doch, nicht wahr?«
»Was ist der Tod anderes als ein Übergang? ›Ich und das Geheimnis — hier stehen wir.‹«
»Interessant, Mrs. Morgan, aber für die Behandlung Ihres Falles wenig hilfreich.«
»›Tod ist die Mutter aller Schönheit und von ihr allein wird die Erfüllung unserer Träume kommen, unseres Verlangens … ‹«
»Konfuses Gerede bringt uns nicht weiter, Mrs. Morgan«, sagte der Richter.
»›Wir leben hier in einem alten Chaos: dem der Sonne‹«, konterte sie. Jetzt sah sie wirklich albern aus, ihr albernes Lächeln, so voller Triumph, der herausfordernde Blick ihrer alten Augen, so bedeutungsschwanger.
Der Richter ordnete seine Papiere. Fernie lehnte sich zu mir herüber. »Also doch ein Durchmarsch«, sagte er.
Carstairs räusperte sich. »Es tut mir aufrichtig leid, Mrs. Morgan. Aber ich habe keine andere Wahl, als im Sinne des Antrags der Adult Protective Services zu entscheiden. Es gibt kein absolut sicheres Verfahren, die
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