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Götterdämmerung in El Paso (German Edition)

Götterdämmerung in El Paso (German Edition)

Titel: Götterdämmerung in El Paso (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick DeMarinis
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Zurechnungsfähigkeit festzustellen, aber es ist meine Überzeugung, dass Sie nicht in der Lage sind, für sich selbst zu sorgen. Ich übertrage hiermit die Vormundschaft auf Ihren Sohn, Mr. J.P. Morgan, der … «
    »›Schwängere mir den Alraun‹«, schrie Velma. »›Ein Antlitz ohne Mund und Augen, das spricht und einen ansieht!‹«
    »Hat die Dame mich soeben impotent genannt? Und einen Menschen ohne Mund und Augen?«, fragte der Richter.
    Ich stand auf. »Sie hat Sie nicht beleidigt, Euer Ehren. Das ist Lyrik. Meine Mutter hat dreißig Jahre auf der Highschool Englisch unterrichtet.«
    »Und ich bin sicher, sie war eine gute Lehrerin. Aber das hier ist kein Klassenzimmer.« Der Richter schlug mit seinem Hammer auf die Richterbank und erhob sich. »Wir sind fertig, Leute. In zehn Minuten habe ich die nächste Anhörung. Gönnen wir uns allen eine kleine Mittagspause.«
    »Seht!«, rief Velma. Sie zeigte auf die Wand hinter der Richterbank. Wir sahen alle hin. Selbst Richter Carstairs drehte sich um.
    »Die Jungfrau!«, sagte sie. »Sie ist da!«
    Die Wand war mit den Jahren vergilbt. Kleine Risse in der Farbe bildeten ein Muster. Bis jetzt hatte ich es nicht bemerkt. Es sah aus wie eine verschleierte Frau mit ausgebreiteten Armen. Anfangs war kein Gesicht hinter dem Schleier auszumachen, doch wenn man lange genug darauf starrte, sah man gütige Augen. Die zum Segen ausgebreiteten Arme schienen sich uns entgegenzustrecken.
    »Eine alte Wand voller Risse, die dringend gestrichen werden muss«, konstatierte Richter Carstairs und brach den Bann. Und genau das war es: eine alte rissige Wand. Wenn man ganz genau hinsah, wenn man die Augen zusammenkniff, konnte man Wale, Berge oder die Umrisse von Peru erkennen. Oder die Jungfrau, je nachdem, was man wollte oder wessen man bedurfte.
    Der Richter verließ den Raum. Pilar Mellado — knochig, gestresst, mit schwarzem, borstigem Haar, das sie streng aus dem Gesicht gebürstet trug — kam auf mich zu. »Ich bringe Velma jetzt ins El Descanso, J.P. Mit Ihrer Genehmigung, natürlich. Sie haben jetzt das alleinige Verfügungsrecht über das Haus Ihrer Mutter. Ich würde es so schnell wie möglich verkaufen. Schließlich müssen bald die Unterkunftskosten bezahlt werden.«
    Pilar nahm Velma bei der Hand, um sie hinauszubringen. Das alte Mädchen machte einen verstörten Eindruck. »Mom, es geht wirklich nicht anders«, sagte ich.
    Sie starrte mich an, als hätte sie es mit einem unhöflichen Fremden zu tun, der sich in eine Familienangelegenheit einmischt.
    »Ich kenne Sie nicht, Sir«, sagte sie.

42
    Heißer Wind trieb mir feinen Sand in die Augen. Fernie Peralta holte mich auf dem Parkplatz ein. »Alles in Ordnung?«, fragte er. »Ich habe die Vollmacht und die Vormundschaftsurkunde notariell beglaubigen lassen.« Er holte die Papiere aus seinem Aktenkoffer und überreichte sie mir. »Du kannst jetzt uneingeschränkt über den Besitz deiner Mutter verfügen.«
    Ich hantierte mit meinen Autoschlüsseln. Ließ sie fallen. Ein Staubteufel schraubte sich über den Parkplatz, ein Minitornado aus Sand und Abfall.
    »Hab Sand im Auge«, sagte ich, bückte mich und hob die Schlüssel auf.
    »Du hast ’ne Menge durchgemacht in letzter Zeit«, sagte Fernie. »Komm, ich geb dir einen aus.«
    »Mein Gott, ich hoffe, dass ich rechtzeitig ins Gras beiße, bevor ich meinen Kindern erkläre, dass ich sie nicht kenne.«
    »Du hast gar keine Kinder«, stellte Fernie fest.
    »Du weißt, was ich meine.«
    Wir landeten im El Padrino, einer Bar in Downtown. Fernie bestellte einen trockenen Martini, ich ein Bier und ein Solei.
    »Wie geht’s deinem Freund?«, fragte Fernie.
    »Welchen Freund meinst du?«
    »Den Jungen, der die Neandertaler erschossen hat, die dich angegriffen haben. Ist er nicht der Sohn vom alten Richter Penrose?«
    »Ist er. Und er ist verrückt wie eh und je.«
    »Jeder sollte einen Freund haben, der so verrückt ist.«
    Ich war versucht, Fernie von Huddy und Spode zu erzählen. Der Impuls, sich jemandem anzuvertrauen, war stark, doch ich beschloss, es besser für mich zu behalten. Zwar glaubte ich nicht, dass Fernie aus juristischer Sicht gezwungen wäre, die mexikanische Polizei zu informieren, aber sicher war ich mir nicht.
    »Wer ist eigentlich dieser Hector Martinez?«, fragte er.
    »Du hast von ihm gehört?«
    »Zumindest habe ich gehört, dass sein Name im Zuge der Ermittlungen aufgetaucht ist. Offensichtlich waren diese Neandertaler und die Rangers hinter ihm

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