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Götterdämmerung in El Paso (German Edition)

Götterdämmerung in El Paso (German Edition)

Titel: Götterdämmerung in El Paso (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick DeMarinis
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erschrocken zurück, aber nur einer fällt, schreit und greift sich ans Bein. Hector hebt die Maschinenpistole auf und wirft sie weg, dann kniet er sich neben den Verletzten in den Sand. Es folgen verwackelte Bilder, ich sehe blauen Himmel, Wüstenboden, Gestrüpp, dann Hector, eine Nahaufnahme, wie er seinen Gürtel abnimmt und ihn um den Oberschenkel des verletzten Mannes schlingt. »Carla«, schreit Hector, »versuche 911 zu erreichen. Sag ihnen, wo wir sind, und dass wir einen Rettungswagen brauchen. Ich muss die Leute hier wegbringen. Sie klappen mir zusammen.«
    Die Aufnahme war vielleicht fünf Minuten lang, ich hatte den Eindruck, sie sei sogar noch kürzer. Ich sah sie mir zehnmal an.
    An Schlaf war überhaupt nicht zu denken. Ich wälzte mich hin und her auf der durchgelegenen Matratze, kam fast um vor Hitze. Das zerknüllte Bettzeug war klamm von Schweiß. Als ich endlich wegdriftete, schlüpfte Dani zu mir ins Bett, sah sich mein Bein an. Ein Melanom, sagt sie. Da, an deinem Oberschenkel. Du hast doch gesagt, dass du sauber bist! Warum hast du gelogen? Dann betritt Raymond meinen Traum, in Uniform und die Augen tief in ihren Höhlen. Verschwinde, sage ich zu ihm, es gibt keinen hinreichenden Tatverdacht. Ein Melanom ist ein hinreichender Tatverdacht, sagt er. Er hat eine AK-47 und ein offenes Klappmesser dabei. Komm, ich schneid es dir raus. Beschützen und dienen, das ist meine Aufgabe, vato.
    Ich erwachte aus diesen verschwitzten Melanom-Filmen mit dem vagen Gefühl, dass ich der Sache, der ich nachjagte, allmählich näher kam, um sofort zu erkennen, dass diese Sache mich jagte, und zwar von Anbeginn an. Dieses Gefühl verflüchtigte sich erst nach einer kühlen Dusche und dem Genuss von drei Tassen Motelkaffee.
    Ich fragte mich, ob diese Reise nach Phoenix ein eindeutiger Beweis dafür sei, dass ich den Verstand verloren hatte.
    Ich kam zu dem Schluss, dass dem so sei.

44
    Stefan Selbiades’ dermatologische Praxis stand einsam am Ende einer L-förmigen Ladenpassage, abseits der sich nahtlos aneinanderreihenden Läden, die sich alle unter einer einzigen Markise drängten. Die Praxis, offenbar bereits vor Errichtung der Passage an Ort und Stelle, befand sich in einem eingeschossigen, mit Stuckelementen verzierten Gebäude im Art-déco-Stil — ein Überbleibsel aus einer Zeit, als Phoenix noch eine nichtklimatisierte Bushaltestelle zwischen El Paso und L.A. gewesen war.
    In seiner stromlinienförmigen Modernität der abgerundeten Ecken und dekorativen Einlegearbeiten aus Glasbausteinen trotzte es den Zeugnissen indianischer Kultur, die in den Läden zum Einsatz kamen, um Touristen anzulocken. Ungeachtet dessen, was die einzelnen Kulturen in Fragen von Raum, Zeit und Weltanschauung voneinander trennte, musste eine krude Mischung aus unterschiedlichen Elementen für die Gestaltung der Schaufenster herhalten und bot einen starken Kontrast zum strahlenden Weiß des Praxisgebäudes: Donnervögel, das Symbol des Flöte spielenden Kokopellis, Bilder nordamerikanischer Indianer im Kopfschmuck, Nachbildungen des Steins der 5. Sonne der Azteken, daneben Schädel und Skelette für den Día de Los Muertos, den Feiertag für die Toten, alles wahllos in den Schaufenstern verteilt. Zusammen bildete das Zeug einen quietschbunten Fries, der aus der ernsthaften Kunst amerikanischer Ureinwohner Tinnef machte.
    Punkt halb elf betrat ich die Praxis. Nachdem ich den üblichen Formularkram erledigt hatte, schob mich die Sprechstundenhilfe eilig in einen Untersuchungsraum. Laut Namensschild auf dem Empfangstresen hieß sie »Candy« und genauso sah sie aus: süß wie Batteriesäure.
    Die anderen Patienten im Wartezimmer fühlten sich benachteiligt. Ihr verärgertes Gemurmel ließ daran keinen Zweifel. Die meisten waren ältere Leute und — weil das hier Scottsdale war — reich. Wie Florida hat auch Arizona eine breite Schicht aus kränkelnden Alten, die samt ihrem Geld Richtung Süden geflüchtet waren, um der Kälte der Nordstaaten zu entkommen.
    Die Sonne Arizonas ist grausam zu alter Haut und hält die Dermatologen in Trab. Von Keratosen auf Armen und am Hals über Hautkrebs auf Wangen, Nasen und am Kinn war vermutlich auch in Selbiades’ Praxis alles vertreten. Und dazwischen die eine oder andere, die sich ihre halbjährliche Botox-Spritze abholte oder die Ladung Collagen zum Aufpumpen der schlaffer werdenden Lippen.
    Dermatologen gehören nicht zur Elite der medizinischen Zunft, aber die Arbeit ist relativ leicht und

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