Götterdämmerung
die himmlischen Sendboten mit funkenstiebender Macht, so morden die Kinder des Weltenraumes aus Verzweiflung. Dem Weisen ist’s eine größere Ehre, das Gesicht zu verlieren als den ganzen Kopf.
Gwydiot klappte das Buch wieder zu. Große Klasse. Ganz große Klasse. Merlins Aphorismensammlung für wissbegierige Stallburschen und ähnliche Geistesriesen, ein garantiert nutzloses Nachschlagewerk für den täglichen Gebrauch. Er sah sich noch einmal suchend nach Gawain um und eilte dann mit großen Schritten über den Marktplatz. Wenn er schon die himmlischen Mysterien nicht begriff, wollte er wenigstens die irdischen ergründen.
Als er den Platz fast überquert hatte, blieb er so plötzlich stehen, dass ein zufälliger Beobachter leicht auf die Idee hätte verfallen können, jemand mit göttlichen Fähigkeiten habe den Schreitenden festgenagelt. Was natürlich nicht der Fall war. Es ist nicht immer ein Gott vonnöten, um einen Menschen abrupt zum Stillstehen zu bewegen. In diesem Fall genügte ein sehr, sehr leises Geräusch.
Gwydiot lauschte atemlos ins Dunkel. Da war es wieder. Ein Ächzen. Ein Klagen. Nein, eher ein Stöhnen, das leise aus der Tiefe drang. Mit gespitzten Ohren folgte der Magier dem Geräusch zu einer anderen Scheune, die alleinstehend vor einem Feld hockte. Er presste sein Ohr an die Holztür und lauschte. Wieder die Geräusche. Geräusche, die so ähnlich klangen wie die eines Albträumenden, aber eben auch nur so ähnlich. Wütend stieß Gwydiot die Tür auf und sah in die mondlichtüberflutete Heulandschaft. Gawain löste sich erstaunlich behände aus der Umklammerung der langen, schlanken Frauenbeine, zog mit der Rechten sein Schwert aus der neben ihm liegenden Scheide und bedeckte sich mit der Linken notdürftig.
«Wer da!», schrie er unsicher und fuchtelte mit dem Schwert in Richtung des Schattens, der im Eingang aufgetaucht war.
«Ich, Gwydiot», sagte der Magier streng. «Was fällt Euch ein, Euren Posten zu verlassen, Gawain?»
«Oh, Gwydiot. Ich … äh … nu ja.»
Gawain ließ das Schwert sinken und versuchte, sich möglichst unauffällig zu bekleiden. Gwydiot sah an ihm vorbei und betrachtete das junge, blonde Mädchen, das, an den richtigen Stellen unbekleidet, rücklings im Heu lag. Sie war hübsch und lächelte. Sie hatte alle Zähne im Mund, war ausnehmend gut gebaut und machte einen sehr netten Eindruck.
«Wer ist dieses Mädchen?», fragte Gwydiot.
«Äh … Äh … Äh …», sagte Gawain.
Das Mädchen erhob sich anmutiger als eine Dampfwolke aus dem Heu, näherte sich dem Magier auf Atemweite und sagte, während es seine Bluse selbstbewusst verschnürte: «Mein Name ist Gwenddolau. Es freut mich sehr, Euch kennenzulernen … alter Mann.»
Gwydiot verzog unmerklich sein fünfunddreißigjähriges Gesicht und räusperte sich vernehmlich.
«Findet Ihr es höflich», fuhr Gwenddolau mit einer Stimme wie Samt fort, «in die Intimsphäre anderer einzudringen, wenn man nicht vorher dazu aufgefordert wird?»
«Äh …», sagte Gwydiot und schwieg.
«Aha», lächelte Gwenddolau.
Der Magier starrte sie für einen Augenblick an. Sie war wirklich außerordentlich schön, mindestens ebenso begehrenswert und zudem offenbar auch noch klug. Gwydiot betrachtete Gawain, der gerade eine Runde im Kampf mit seiner Hose verlor und rücklings auf den Scheunenboden krachte. Gwydiot sah wieder das Mädchen an und stellte sich jene Frage, die er sich im Verlauf seines Lebens schon hunderttausendmal gestellt hatte und die sich Millionen von intelligenten Männern nach ihm noch Millionen Mal stellen sollten, nämlich, weshalb die schönsten, nettesten, intelligentesten Frauen grundsätzlich Verhältnisse mit Männern anfingen, die es sogar in geistiger Bestform nicht mal mit einem zurückgebliebenen Affenbaby aufnehmen konnten.
Worauf er natürlich keine Antwort fand. Vielleicht wäre er zu dem Schluss gekommen, dies müsse damit zusammenhängen, dass intelligente Menschen sich grundsätzlich jemanden suchen, dessen Schramme so fulminante Ausmaße hat, dass sie ihm sogar schlafend noch turmhoch überlegen sind, vielleicht wäre er auch zu dem Schluss gekommen, es müsse einen Zusammenhang zwischen Intelligenz und Masochismus geben, vielleicht wäre er zu einem völlig anderen Schluss gekommen, hätte ihn nicht ein plötzlicher Aufschrei aus allen diesbezüglichen Überlegungen gerissen.
Der Kopf des Magiers flog herum. Gawain, der sich zwischenzeitlich aufgerappelt hatte, fiel
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