Götterdämmerung
davor, lange Zeit nicht schmerzfrei schlafen oder in den Spiegel sehen zu können.
Von düsteren Wolken begleitet, schossen Odin und Sleipnir auf sie zu. Athene hob die Lanze, wehrte Gungnirs ersten, heftigen Stoß ab und ging bebend in die Knie. Thor verstummte, schielte unter seiner Beule hoch zu der Griechin, die ihm den Rücken zuwandte, um den erneut auf sie zugaloppierenden Odin zurückzuschlagen, erkannte die Gunst der Sekunde und nutzte sie. Starke Arme schlossen sich um Athenes Oberkörper und hielten die Göttin fest umklammert. Thors heftig atmender Mund war direkt hinter ihrem Ohr.
«Sag deinen Vorderzähnen auf Wiedersehen, Griechenkuh!»
Odin schoss auf sie zu. Athene sah die gesenkte Speerspitze größer und größer werden und wand sich nach Leibeskräften, aber es half nichts. Sie zauberte ihren letzten Trumpf aus dem Ärmel. Einen kleinen Trumpf. Oder besser, ein Ass, das unglücklicherweise nicht zur Trumpffarbe gehörte.
Es war ihre letzte gute Karte.
Athene holte tief Luft und schrie.
«Vaaaaaaaaaaater!»
Zeus erwachte schlagartig aus dem leichten Schlummer, in den er sich hochgekämpft hatte, begriff ebenso schlagartig, was vor sich ging, und verschwand noch etwas schlagartiger in einem Lichtloch, um seiner schreienden Tochter beizustehen. Fast jeder Sterbliche wird sich mühelos in die Lage des Göttervaters versetzen können. So groß die innerfamiliären Differenzen auch sein mögen: Sobald sich ein Außenstehender gegen jenes Familienmitglied wendet, mit dem man gerade zankt, sind alle Zwistigkeiten vergessen. Jedenfalls vorübergehend.
Ein Blitz, der sich über irgendwelche Energieangaben in profanen Ampere garantiert vor Lachen geschüttelt hätte, schmetterte Odin aus dem Sattel von Sleipnir. Da der oberste Ase ziemlich schnell begriff, dass er nicht mehr an der richtigen Stelle saß, fand er Sekunden später, einige tausend Kilometer über den Galapagos-Inseln, das Gleichgewicht wieder und machte sich unverzüglich auf den Rückweg. Gungnir suchte seinen Meister und schmiegte sich hoch über Norditalien wieder in Odins haarige Pranke.
Thor entriss Athene den Hammer und jagte Zeus eine ohrenbetäubende Druckwelle an den Kopf. Zeus erwiderte den Angriff mit einer Salve kleinerer Blitze, die der Ase mit rotierendem Hammer abwehrte. Athene schlug Thor mit der Lanze vor die Schienbeine, als Odin zurückkehrte und ihr seinerseits Gungnir auf den Helm knallte. Funken stoben durch Raum und Zeit. Gewaltige Energien entluden sich in alle denkbaren Kontinuen, während die Götter mit unermesslicher Kraft aufeinander eindroschen.
Hödur ergriff Baldurs Unterarm.
«Hörst du?», flüsterte er aufgeregt.
Baldur lauschte. Dann hörte er es auch.
«Komm», sagte er entschlossen, «wir müssen Vater helfen.»
Er warf einen letzten Blick auf den dunklen Plymouth, der unter ihnen in Richtung Salisbury glitt. Die Entscheidung, Cameron seinem Schicksal zu überlassen, fiel Baldur nicht leicht, aber er wusste, dass ihm keine andere Wahl blieb. Der Mann mit dem Hut war nur ein Mensch. Und was war schon ein Menschenleben, wenn es um die Ehre der Familie ging?
Camerons Schutzgötter verschwanden.
Poseidon hatte seinen Streitwagen gerade von den Westhängen des Ural gekratzt und mit einer raschen Handbewegung wieder zusammengesetzt, als er Zeus’ wütende Schreie hörte. Der Gott der Meere verzog das Gesicht zu einer unvorteilhaften Grimasse und grübelte, ob der Tod des Sterblichen wichtiger war als die Unterstützung seines schnaubenden Bruders.
Andere Götter hätten keine zwei Sekundenbruchteile für diese Entscheidung gebraucht, aber Poseidon war eben nicht viel heller als eine Glühbirne.
Nach knapp zehn Sekunden schoss er los, um Zeus zu helfen.
Apollon und Artemis erwachten und hörten das Scheppern und Krachen durch Raum und Zeit dringen. Die Geschwister sahen sich kurz an, schulterten ihre Waffen und verschwanden.
Ares hob den Kopf, lauschte, löste sich von Aphrodites makellosem Leib, schlüpfte hektisch in seine Rüstung und verschwand. Augenblicke später tauchte er verlegen lächelnd wieder vor dem zerwühlten Lager auf, schnappte sich seinen Speer und verschwand erneut.
Hera kehrte kurz vor dem Steintor um und eilte ihrem Mann zu Hilfe. Hephaistos ließ alle Schmiedearbeiten stehen und liegen und folgte ihr zügig. Heimdall rief Hermodur, Forseti, Magni und Modi zu sich, und gemeinsam eilten die Asen in die Schlacht. Hermes schüttelte seinen Kater ab und
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