Götterdämmerung
Geräusch genügte, um Zeus aus seinem hochprozentigen Tiefschlaf in einen leichten Schlummer zu befördern. Hunderte von Gedanken kreisten putzmunter durch den Kopf des verkaterten Göttervaters und machten sich einen Spaß daraus, seinem Zugriff auszuweichen. Aber Zeus ließ nicht locker …
«Also wirklich», sagte Diana kopfschüttelnd und kicherte albern. «Du bist der unglaublichste Mensch, den ich kenne. Nicht zu fassen. Erasmus Weinberger, der Mann, der die Götter verarscht.»
Erasmus sagte nichts. Er reagierte nur deswegen nicht geschmeichelt auf diese Lobeshymne, weil er schon beim ersten Mal, unmittelbar nach dem Erlebnis, geschmeichelt darauf reagiert hatte. Und beim zweiten Mal. Und bei den darauf folgenden Malen, jedenfalls bis zu Dianas zehnter Wiederholung. Jetzt saß er beschämt auf dem Beifahrersitz und versuchte sich auf die Landkarte zu konzentrieren.
«Du musst gleich nach rechts», sagte er.
«Wird gemacht», trällerte Diana und summte ein fröhliches Liedchen, während sie in Richtung Amesbury abbog.
Sie wusste nicht genau, ob sie sich seit dem Zwischenfall auf dem Parkplatz wirklich sicher fühlte oder bloß den Verstand verloren hatte, aber direkt nach dem Abbiegen legte sie sich ganz entschieden auf Letzteres fest.
Diana und die Bremsen des Rover kreischten im gleichen Moment los.
Erasmus ließ die Karte Karte sein und blickte nach vorn.
Diesmal sah Thor noch etwas beeindruckender aus als auf dem Parkplatz. Auf seinen Hammer gestützt, stand er breitbeinig im Gegenlicht auf der Fahrbahn und wirkte wie ein unbezwingbarer Felsbrocken mit Helm.
Erasmus sah Diana an.
Diana sah Erasmus an.
Dann sahen beide den Gott mit dem Hammer an.
Thor stampfte mit dröhnenden Schritten auf den Rover zu und blieb einen knappen Meter vor der Motorhaube stehen.
«Niemand, Sterblicher», brüllte er, «narrt den mächtigen Thor ungestraft!»
Erasmus schluckte.
Diana krallte sich in seinen Unterarm.
«Ich … liebe dich», hauchte sie. «Wollte ich nur noch mal loswerden.»
«Ich liebe dich auch», hauchte Erasmus zurück.
«Das ist schön.»
«Warum habe ich dir das nicht schon viel früher gesagt?», fragte Erasmus, ohne den Blick von Thor zu wenden, der Mjölnir in die Höhe riss und auf das Dach des Rover zielte.
«Hauptsache, du
hast
es noch gesagt», flüsterte Diana, griff ihm mit beiden Händen in die zottigen Hinterkopfhaare und zog ihn zu sich herüber. Sie küsste ihn weich und sanft auf den Mund und stellte nicht ohne Wehmut fest, dass sie Erasmus zumindest in dieser Hinsicht nichts hätte beibringen können.
Mjölnir schoss auf den Wagen zu.
Athene dankte dem Schicksal, dass es sie nicht nur zur Göttin der Weisheit und der handwerklichen Kunst bestimmt hatte, sondern auch zur Göttin der taktischen Kriegsführung. Denn allein diesem Umstand verdankte sie ihr profundes Wissen über die Kampftechniken und Waffen aller Zeiten und Welten, und so musste sie Thors durch die Luft zischendem Hammer nicht tatenlos zusehen. Vor langer Zeit, bevor Ares und Poseidon begriffen hatten, dass mit Athene nicht gut Kirschen essen war, hatten die beiden häufig versucht, die kräftemäßig deutlich unterlegene Göttin zu verprügeln. Es war ihnen nie besonders gut bekommen.
Athene kannte die Technik des Asen und wusste, wie er seinen Hammer beim Zuschlagen hielt. Das Handgelenk in einer Lederschlaufe, die an der Unterseite von Mjölnirs Griff befestigt war, führte Thor den Hammer grundsätzlich nach vorn und drückte ihn mit dem Handballen nach unten, damit das todbringende Geschoss nicht vorwärts davonflog. Eine Ablenkung zur Seite zog Thor bei seinen vernichtenden Schlägen grundsätzlich nicht in Betracht.
Athene riss den Dolch aus ihrem Gürtel und schleuderte ihn mit aller Kraft nach dem Hammerkopf. Sirrend und knallend durchbrach die Waffe einige Schallmauern, und wie sich Sekundenbruchteile später herausstellte, waren die Berechnungen der klugen Griechin goldrichtig gewesen.
Als Mjölnir nur noch wenige Zentimeter vom Dach des Rover entfernt war, traf Athenes Dolch den Hammerkopf wuchtig an der linken Seite. Thor registrierte verdutzt, dass sein treuer Freund ruckartig nach rechts auswich, versuchte verzweifelt, ihn in die richtige Bahn zurückzuzwingen, und stellte fest, dass das gar nicht so einfach war. Von Mjölnirs gewaltigem Schwung mitgerissen, eierte der mächtige Ase dicht über dem Asphalt wie ein zu groß geratener, elektrisierter Brummkreisel durch die Luft
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