Götterfall
klingen.
Wencke nahm die Briefe aus dem Umschlag und legte sie auf den Tisch. Der Wind wollte sich direkt ein bisschen Papier zum Spielen mitnehmen, also sammelte Wencke einige der Lavasteine, die überall vor den Stufen auf dem trockenen Boden verteilt waren, und legte sie zum Beschweren darauf. »Ich meine nur: Wenn ihr – du und Jarle Yngvisson – irgendeinen Plan verfolgt, der etwas mit dieser Geschichte zu tun hat …«
»Wie kommen Sie darauf?«
Wencke hatte alle Blätter chronologisch sortiert, nur die Ecke rechts unten blieb frei. »Als ich mit Jarle im Hotel Borg am Tisch saß, habe ich ihn direkt danach gefragt, und er sagte, es gebe Geschichten, die zu Ende erzählt werden müssen.« Da Lena nichts erwiderte, stattdessen nur die Arme verschränkte und demonstrativ zur Seite blickte, machte Wencke weiter: »Wenn wir beim LKA eine Aussage auf ihre Glaubwürdigkeit überprüfen lassen wollen, dann wird genau untersucht, worauf der Erzähler dieAufmerksamkeit lenken will. Lügner neigen dazu, Details am Rande übertrieben stark auszuschmücken. Einzelheiten, die nicht unbedingt überprüft werden können, werden auffallend detailgenau geschildert.« Sie zeigte auf eine gelb eingekreiste Stelle: »Schau mal hier, der Bericht über die Verhaftung deines Vaters. Es ist von seinen Brusthaaren die Rede, von Schweiß und Zweifeln, beinahe poetisch verpackt. Klingt alles ganz lebensnah. Doch die eigentlich wichtigen Informationen sind nur sehr einsilbig und mehr am Rand erzählt.«
»Was meinen Sie genau?«
Wencke reichte ihr einen Zettel, den sie am Rand dick markiert hatte. »Da, lies mal den Absatz vor!«
Lena griff nach dem Brief. » Die vom SEK haben mich behandelt, als hätten sie mich bei einer Rotlicht-Razzia aufgegabelt. Bis dann einer in meinem Portemonnaie den Polizeiausweis entdeckt hat, da gab es ein bißchen mehr Respekt. Und klare Anweisungen, ich soll verschwinden, splitterfasernackt, wie ich war, ich soll die Klappe halten, keinen Aufstand anzetteln. « Sie schaute auf. »Und was soll damit nicht stimmen?«
»Was genau haben die Polizisten beispielsweise zu Doro gesagt, als sie ins Zimmer kamen? Davon steht hier kein Wort.«
Fast trotzig schüttelte Lena den Kopf.
»Merkst du es nicht? Es ist wie eine Fotografie, auf der nur der Hintergrund scharf gezeichnet ist. Das Objekt im Vordergrund, auf das es bei der Aufnahme eigentlich ankommt, ist nur verschwommen und verwackelt zu erkennen.«
»Doro war außerdem gar nicht nackt, als sie ging«, mischte sich Götze ein, der zwischenzeitlich bei ihnen angekommen war und ihrer Unterhaltung gelauscht haben musste. »Wenn es etwas gibt, das ich ganz genau weiß, das ich sogar vor Gericht schwören würde, dann dass Doro einen dunkelblauen Slip getragen hat. Sie mochte es nicht, völlig nackt im Bett zu liegen. Sie hat immer gesagt, dann würde sie einen kalten Hintern bekommen.«
Lena öffnete den Mund, wollte etwas sagen, aber ihr fiel wahrscheinlich nichts ein.
»Es gibt noch mehr solcher Stellen. Immer wieder ist die Rede davon, dass Doro sich mir anvertrauen wollte, ich ihre Sorge aber nicht ernst genommen hätte und so weiter. Daran kann ich mich aber beim besten Willen nicht erinnern.«
»Weil Sie es nicht wollen!«, fauchte Lena. »Wer gibt denn schon gern zu, eine miese Freundin gewesen zu sein!«
Wencke blieb ruhig. »Genauso wenig halte ich es für möglich, dass Doro so viele Seiten geschrieben haben soll, nachts, in unserem kleinen Zimmer, ohne dass es Silvie oder mir aufgefallen wäre. Tut mir leid, Lena …«
»Sie wollen doch nur davon ablenken, dass Sie meine Mutter im Stich gelassen haben!« Es war schon fast ein Flehen. Lena wischte über die Briefe, warf die Steine hinunter, schob die Blätter durcheinander und sortierte sie neu. »Was sollen diese bunten Kreise überall? Diese Kritzeleien am Rand? Wie lange haben Sie gebraucht, um Ihre Pseudobeweise zusammenzutragen, bloß um sich selbst ein reines Gewissen zu verschaffen!« Jetzt griff sie nach dem Brief Nummer drei und hielt ihn hoch. »Hier zum Beispiel wird von dem Besuch bei Jans Mutter berichtet! Zwei Frauen allein in einer Küche … Das soll bloß ausgedacht sein?«
»Gerade Kleinigkeiten wie beispielsweise diese Flasche Mariacron im Hause Hüffart fallen mir auf.«
»Was stimmt damit nicht?«
»Meine Intuition sagt mir, dass die Frau eines Spitzenpolitikers mit Sicherheit eine edlere Weinbrandsorte gewählt hätte, jedenfalls keinen 08/15-Schluck für
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