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Götterschild

Titel: Götterschild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Rothballer
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Ausweg mehr gab, dann stellte auch der Freitod immer noch eine Alternative dar. Und wenn er dafür seinen Schädel so lange gegen die Steinmauern hätte schlagen müssen, bis er zerbrochen wäre, hätte dies immerhin ein selbstbestimmtes Ende bedeutet. Aber sich seinem Schicksal einfach auszuliefern, ohne eigenen Antrieb alles mit sich geschehen zu lassen, das wäre ganz sicher nicht der Weg gewesen, den Megas gewählt hätte. Was Megas erstaunte, war, dass sich Nagas trotz seines Elends noch an etwas erfreuen konnte – auch wenn es bloß etwas so Unbedeutendes wie dieses Ungeziefer war. Er hatte das Tier während seiner langen Haft durch dauerndes Auslegen von Futter an sich gewöhnt, sodass es ihm nun aus der Hand fraß und sich sogar streicheln ließ. Auf einen solch absurden Gedanken wäre Megas niemals gekommen. Die Mahlzeiten, die sein Bruder im Kerker erhielt, waren bestenfalls als spärlich zu bezeichnen. In einer ähnlichen Situation hätte Megas die Maus vielleicht noch getötet und gegessen, wenn sein Hunger groß genug gewesen wäre. Aber ihr von dem Wenigen abzugeben, was er zum Leben benötigte, nur um sich ihrer Gesellschaft zu erfreuen, erschien ihm als die dümmste aller möglichen Verhaltensweisen.
    Und doch konnte Nagas immer noch lächeln, das wunderte Megas am allermeisten. Nach fast zwei unendlichen Jahren ohne Sonne, in Ketten für einen Vatermord, den er nicht begangen hatte, bereitete es ihm solches Vergnügen, irgendwelchem schäbigen Getier einen Leckerbissen zu schenken, dass er lächelte. Es war schon bemerkenswert, dachte Megas, wie viel Kraft ausgerechnet sein Bruder aus einer unbedeutenden Freundschaft mit einer Maus schöpfen konnte.
    Erstaunlicherweise hatte es der schwächliche Nagas auch noch fertig gebracht, trotz seiner mehr als unkomfortablen Unterbringung am Leben zu bleiben, was bei seiner von Beginn an kränklichen Konstitution kaum zu erwarten gewesen wäre. Megas pflegte gefühlsbetonte Bindungen an ein anderes Lebewesen eigentlich als hinderlich, wenn nicht gar gefährlich einzustufen, aber er konnte nicht leugnen, dass sich in seltenen Fällen auch ein gewisser beiderseitiger Nutzen daraus ziehen ließ. So schienen die Treuebande zwischen Freunden oder Liebenden auch große Kraft verleihen zu können, eine Erkenntnis, die er allerdings nur aus der Beobachtung anderer gewann. Er selbst war das Risiko, jemanden zu lieben oder auch nur zu schätzen, niemals wieder eingegangen, seit seine Mutter viel zu früh dahingerafft worden war und dabei alles mit sich genommen hatte, was er und ebenso sein Vater an liebevollen Gefühlen aufzubringen vermochten.
    Nagas schien da anders zu sein. Obwohl auch er ohne Mutter aufgewachsen war und sein Vater ihn nach ihrem Tod wie einen Aussätzigen des Hofes verwiesen hatte, war ihm der Glaube an das Prinzip Freundlichkeit nicht abhandengekommen. Selbst aus geringfügiger Zuneigung vermochte er noch so viel Kraft zu schöpfen, dass ihm sogar die Gesellschaft dieses unscheinbaren Nagetiers genügte, um in seiner Kerkerzelle nicht den Lebenswillen zu verlieren. Damit wurde Nagas Stärke aus einer Quelle gespeist, deren Ergründung sich Megas umso weiter entzog, je mehr er sie zu finden versuchte. Sein schwächlicher Bruder hatte die Kerkerhaft überlebt und damit, so erstaunlich es auch scheinen mochte, etwas vollbracht, das sich Megas selbst nicht zugetraut hätte. Megas respektierte Stärke, vielleicht das Einzige, dem er überhaupt eine Bedeutung beimaß. Und zumindest in diesem Punkt hatte Nagas seine Anerkennung verdient, sosehr Megas dessen augenfällige Verweichlichung auch störte.
    Er schob den Dolch, den er bereits aus dem Gürtel gezogen hatte, wieder dorthin zurück. Vielleicht war es ein Fehler, Nagas heute am Leben zu lassen, aber Stärke verdiente es, erhalten zu werden. Oder erlag er, Megas Arud’Adakin, Beherrscher des glorreichen Ho’Nebs und der mächtigste Inselherr von Jovena, etwa gerade derselben Schwäche, für die er andere so sehr verachtete? Empfand er etwa Mitleid mit Nagas?
    Nein, das war nicht der Grund, sagte sich Megas entschlossen. Er sah nur einfach keine Notwendigkeit mehr darin, Nagas umzubringen. Was sollte denn dieser Hänfling dort, mit einer Maus als einzigem Verbündeten, schon gegen ihn ausrichten? Seine Worte hatten kein Gewicht, sein Arm keine Kraft, sein Wille keine Festigkeit. Megas musste von ihm nichts befürchten. Er konnte es sich leisten, seinen Bruder für dessen Lebenswillen zu

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