Götterschild
eine Ohrfeige. Sie trat einen Schritt zurück und spießte Rai mit ihren zornigen Blicken förmlich auf. Mit dem Ausdruck von wütender Verzweiflung im Gesicht floh Selira schließlich in die Abgeschiedenheit ihrer Kabine unter Deck.
Rai fühlte sich innerlich dumpf, kaum in der Lage, etwas Bestimmtes zu empfinden. Während sein Verstand noch zu rechtfertigen versuchte, was er gerade gesagt hatte, wusste sein Herz bereits, dass er zu weit gegangen war. Die Umstände, unter denen sie als kleines Kind von ihren Eltern getrennt worden war, hatte Selira zwar bislang verschwiegen, aber es ließ sich leicht erahnen, dass dieses Erlebnis zu dem Schrecklichsten gehören musste, was sie in ihrem jungen Leben durchlitten hatte. Nun nahm sie unerschrocken jedwede Gefahr auf sich, um wieder mit ihrer Familie vereint zu sein, und da fiel ihm nichts Besseres ein, als ihr zu erklären, dass all ihre Bemühungen sinnlos seien. Nein, wie man es auch drehte und wendete, rücksichtsvolles, einfühlsames Verhalten sah anders aus, dachte Rai reuevoll. Dabei brachte es ihn einfach nur immer wieder zur Weißglut, dass sich die störrische Xelitin nicht helfen lassen wollte und ebenso wenig einen gut gemeinten Rat annehmen konnte. Es war nun einmal ungeheuer gefährlich, was sie vorhatte, und dass sie sich nicht davon abbringen ließ, ärgerte ihn gewaltig. Im Zorn sagte er dann Dinge, die er besser nicht laut aussprechen sollte, wenn ihm an Seliras Gunst gelegen war.
Frustriert sah Rai sich um, auf der Suche nach ein wenig Ablenkung. Meatril und Targ standen beim Kapitän auf dem Achterdeck und beobachteten von dort, wie die Citara auf den emsigen Hafen der Stadt zugesteuert wurde. Mehrere Matrosen waren damit beschäftigt, die Segel einzuholen, die anderen bemannten schon einmal die Ruder, mit deren Hilfe das Schiff zu einem freien Liegeplatz an einem der Stege oder der Kaimauer manövriert werden würde. Alle waren viel zu beschäftigt, um irgendwelche Notiz von dem kleinen Tileter zu nehmen, der ein wenig verloren und mit schlechtem Gewissen am Bug der Citara stand. Als Rai seinen Blick noch etwas weiter übers Deck schweifen ließ, entdeckte er ganz in der Nähe plötzlich Belena, deren Augen unverwandt auf ihn gerichtet waren. Sie schien ihn aufmerksam zu studieren, was ihm jedoch ganz und gar nicht behagte.
»Hast du alles mit angehört?«, erkundigte sich Rai gereizt.
Sie nickte.
»Na, dann sag schon, was ich für ein schrecklicher Kerl bin«, forderte er sie auf, »weil ich der armen Selira die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit ihrer Familie geraubt habe.«
Belena schüttelte den Kopf. »Eigentlich wollte ich dir schon längst einmal etwas ganz anderes sagen. Nämlich dass ich dir sehr dankbar bin für alles, was du für mich tust.« Sie versuchte ein unbeschwertes Lächeln, das aber nicht ganz überzeugte. »Ich bin nur ein einfaches Mädchen aus einem schäbigen Viertel von Seewaith«, sprach sie weiter. Es waren inzwischen mehr Worte, als er während ihrer gesamten Überfahrt mit ihr gewechselt hatte. »Ich weiß nicht viel. Aber ich habe schon die unterschiedlichsten Leute getroffen: mutige und feige, barmherzige und grausame, ehrliche und hinterhältige, aufrechte und gebrochene. Ich glaube, inzwischen kann ich andere schon ein wenig beurteilen. Und daher weiß ich, dass du ein guter Mensch bist.« Sie trat näher. »Deine Selira kann sich glücklich schätzen, dich an ihrer Seite zu haben – und sie wird das noch erkennen, glaube mir. Du wirst das Richtige tun, da bin ich mir sicher.«
Rai fehlten die Worte. Völlig überrumpelt fiel ihm nichts weiter ein, als neben Belena stehen zu bleiben und mit ihr zusammen das Treiben am Hafen zu verfolgen. Doch er fühlte sich besser. Er fand es bemerkenswert, wie wohltuend sich Anerkennung und ein freundliches Wort im rechten Moment auswirken konnten, besonders wenn es von jemandem kam, von dem man es gar nicht erwartet hätte. Nun musste Rai nur noch herausfinden, was dieses »Richtige« war, das er Belenas Ansicht nach tun würde.
Als die Citara schließlich am späten Nachmittag die Hafeneinfahrt passiert hatte, wartete noch eine weitere unangenehme Überraschung auf die Neuankömmlinge. Bei dem Gewirr von Flaggen und Wimpeln an den zahllosen Schiffsmasten war es ihnen aus größerer Entfernung nicht sofort aufgefallen, aber nun sprang es ihnen förmlich ins Auge: Außer ihrem gab es noch drei weitere Schiffe, über denen eine Fahne mit dem vierstrahligen Sonnensymbol
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