Götterschild
gewesen, aber heute würde Thalia die ganze Nacht alleine bleiben müssen und der Schlaf schien so fern wie die heimatliche Steppe. Tarana und Daia hatten sich vor einer guten Stunde von ihr verabschiedet, und zwar mit einigen alarmierend sorglosen Worten, die so gar nicht zu den dunklen Gedankenstücken passen wollten, die Thalia dabei von den zwei Frauen entgegengetrieben waren. Auf das nachdrückliche Drängen des Mädchens hatten die beiden dann widerstrebend preisgegeben, dass sie während eines Scheinangriffs der Istanoit mit den anderen Ecorimkämpfern heimlich das gegnerische Lager auskundschaften wollten. Und deshalb hockte Thalia nun auf ihrem Bett, die Arme fröstelnd um die angezogenen Beine geschlungen, und machte sich Sorgen – große Sorgen.
Nachdem es ihr endlich gelungen war, die aufdringlichen Träume ihres Bruders zurückzudrängen, blieb sie eine Weile allein mit ihren Gedanken, was zwar ihre Angst etwas milderte, ihre Einsamkeit aber nur noch unermesslicher werden ließ. Wie von selbst wanderten ihre Finger zu dem grauen Rautenamulett, das sie immer noch tragen durfte. Doch im selben Moment musste sie daran denken, was es mit Taranas Geschenk auf sich hatte, und danach wagte sie nicht mehr, die Drachenschuppe anzurühren.
Weil sie es alleine mit all ihren finsteren Gedanken nicht mehr aushielt, begann sie schließlich damit, ihren Geist nach außen fließen zu lassen, um sich auf diese Weise ein wenig abzulenken. Aber wohin sie sich auch mit ihrer Gabe wandte, von den anderen Menschen in der Festung nahm sie nur Fragmente der gleichen furchtsamen, verzagten, einsamen, hoffnungslosen Gedanken wahr, die auch in ihrem eigenen Kopf herumspukten. Da draußen schien es in dieser Nacht nichts als Spiegelbilder ihrer eigenen Angst zu geben.
Schließlich kam ihr eine Idee. Warum sollte sie nicht ihre Gedanken noch etwas weiter aussenden, einfach über diese dunklen Mauern, hinter denen sie eingeschlossen war, hinweg, um Taranas Denken zu finden, so wie sie das schon einmal während des Angriffs auf die Istanoit Ril getan hatte? Vielleicht würde sie ja einen Hinweis darauf erhalten, ob es Tarana gut ging. Noch während sie darüber nachdachte, wanderte ihr Geist bereits weiter und begann forschend in die unbekannte Welt außerhalb der Festung vorzustoßen.
Thalia wunderte sich noch darüber, dass dort so wenige Gedankenfetzen zu bemerken waren, obwohl doch angeblich ein ganzes Heer vor den Mauern lagerte, als sie plötzlich auf etwas stieß, das sich am ehesten als Loch auf ihrem geistigen Pfad beschreiben ließ. Ihre Gedanken purzelten regelrecht in diese Fallgrube hinein, ohne dass sie etwas dagegen hätte unternehmen können. Dann vernahm sie unvermittelt eine klare, deutliche Stimme in ihrem Kopf.
›Wen suchst du?‹ Die Geiststimme wirkte so scharf und präzise wie eine Rasierklinge.
›Arton?‹, fragte Thalia unsicher. ›Ist Tarana bei dir? Geht es euch gut?‹
Es dauerte einen Augenblick, bis die Antwort kam. ›Wir haben uns getrennt’, hörte sie die Stimme wieder, ›ich weiß nicht, wo Tarana ist. Vielleicht kannst du mir helfen, sie zu finden?‹
›Du bist nicht bei ihr?‹, wollte Thalia erstaunt wissen. ›Ich dachte, ihr seid zusammen losgegangen.‹ Ihr wurde diese Unterhaltung mit der gesichtslosen Stimme zunehmend unheimlich. War das wirklich Arton?
›Nein, sie ist ohne mich gegangen und jetzt versuche ich, sie zu finden.‹ Es trat wieder eine kurze Pause ein. ›Sag mir einfach, wo sie hinwollte.‹
Thalia stutzte. Wieso wusste Arton nichts davon, dass Tarana, Daia und vermutlich noch einige andere heute Nacht beabsichtigten, in das feindliche Heerlager einzudringen? Andererseits wollte sie auch nicht unhöflich erscheinen, indem sie die Unterhaltung einfach unterbrach. ›Ich weiß nicht genau …‹, begann sie vorsichtig zu antworten.
›Thalia!‹, explodierte in diesem Moment ein Gedankenruf in ihrem Schädel, sodass sie vor Schreck mit einem schrillen Schrei von ihrem Lager aufsprang. ›Verschließe deinen Geist, und zwar – sofort! Es ist unser Feind, der Citarim, mit dem du sprichst.‹
›Zu spät, Arton‹, ertönte gleich darauf wieder die Rasiermesserstimme. ›Die Gedanken des Kindes haben mir bereits offenbart, dass ihr kommt. Ich hoffe, du hast deinen Frieden mit den Göttern gemacht, denn bald wirst du vor Xelos’ Feuer um Einlass in seine Hallen betteln.‹
Damit herrschte wieder Stille in Thalias Kopf und sie fand nur noch die großen,
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