Götterschild
keinen Abbruch. »Alle, die ich hebe, stecken in der Klemme«, schrie sie in der Lautsprache zurück, um ihren Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen. »Sie werden wahrscheinlich sterben, wenn niemand etwas tut. Und ich kann etwas tun, nämlich den Drachen rufen. Und du wirst mir sagen, wie das geht!«
»Du weißt nicht, was du tust!«, zeterte Zottelbart weiter und es schwang panische Angst in seinen Worten mit. »Das ist zu groß für dich, zu schrecklich. Du darfst seinen Geist nicht hierherbringen, das darfst du einfach nicht! Er soll uns nicht so nahe kommen, nein, auf keinen Fall. Ich habe mich nicht mein halbes Leben lang hier versteckt, damit du seinem Feuer den Weg hierher ebnest …«, und so ging es weiter, ohne Unterlass, bis Thalia des Zuhörens überdrüssig wurde.
Bitter enttäuscht wandte sie sich ab. Wenn Zottelbart sich weigerte, ihr zu helfen, dann musste sie es eben allein versuchen, mochte er reden, was er wollte. Schließlich hing Taranas Leben davon ab. Ein Schauer durchlief sie. Sie bemühte sich, Hadors gedankliche Schimpftiraden aus ihrem Kopf zu verbannen. Gegen die laut geäußerten Worte half ein wenig Abstand zu dem Steinhügel. Sie setzte sich hin, überkreuzte die Beine und holte den grauen, rautenförmigen Anhänger unter ihrem Gewand hervor. Arlion beäugte sie eine Weile, dann nahm er auf die gleiche Weise Platz wie sie, ohne seine Schwester aus den Augen zu lassen.
›Gefährlich.‹ Arlion fragte nicht, sondern es schien sich um eine Feststellung zu handeln. Er hatte den Ernst der Lage offenbar begriffen.
›Ja, Arlion‹, bestätigte Thalia und zwang sich zur Ruhe. ›Aber ich muss Mama helfen und Daia und deinem Vater und allen anderen. Ich bin schuld, dass sie in Schwierigkeiten stecken.‹
Arlion nickte still. Sein Blick senkte sich auf das Drachenamulett in den Händen seiner Schwester.
Thalia atmete tief durch. Vorsichtig begann sie, die Schuppe mit ihren Gedanken zu betasten, so wie sie es bei einem Menschen getan hätte, in dessen Denken sie vorzudringen versuchte. Die Schuppe erwies sich als mindestens ebenso widerstrebend, etwas von ihren Geheimnissen preiszugeben, wie ein menschlicher Kopf. Eine Weile probierte sie noch herum, dann verlor sie die Geduld.
›Drache!‹, dachte sie unter Aufbietung all ihrer Geisteskräfte. ›Ich brauche deine Hilfe.‹ Aber nichts geschah. Frustriert ließ sie das Amulett sinken.
›Kaputt?‹, erkundigte sich Arlion teilnahmsvoll.
›Ich weiß es nicht‹, schnaubte sie gedanklich zurück, nur um im nächsten Moment innezuhalten. ›Kannst du dich erinnern, Arlion, wie wir Tarana das letzte Mal gemeinsam mit unseren Gedanken gerufen haben? Oder wie wir den Soldaten, der uns beinahe in unserem Versteck gefunden hat, vertreiben konnten? Das müssen wir jetzt wieder machen – ich meine, unser Denken zusammenbringen. Dann ist es nämlich viel stärker.‹
Die runden, schwarzen Augen ihres Bruders glänzten ihr verständnislos entgegen. ›Ich helfe dir‹, meinte er tapfer.
Thalia zögerte nicht lange und machte sich wieder daran, ihren Geist mit dem ihres Bruders zu verschmelzen. Mittlerweile hatte sie bereits richtiggehend Übung darin, sodass es ihr keine größere Schwierigkeit bereitete. Dennoch war es jedes Mal ein eigenartiges Gefühl, doppelt zu denken, aber davon wollte sie sich jetzt nicht irritieren lassen. Sie machte sich erneut daran, die Raute mit ihrem jetzt vereinigten Denken zu bearbeiten. Tatsächlich schien es ihr diesmal, als ob etwas unter ihrem geistigen Druck nachgab. Urplötzlich sprang der Durchgang auf, wie eine Tür, deren festgerostete Angeln sich endlich lösten.
Doch Thalias Freude über diesen Erfolg währte nur kurz. Denn hinter der Tür empfing sie Feuer. Grelles Leuchten und Wellen aus Hitze überfluteten ihren Geist. Instinktiv wollte sie fliehen, doch die Flammen hatten sie schon eingeschlossen, verbrannten jeden Gedanken. Sie war eine Gefangene des Feuers und Arlion mit ihr.
›Zeichenträger …!‹ Der Begriff dehnte sich in Thalias Geist aus, bis nichts anderes mehr darin Platz fand. Dann zerplatzte er knisternd wie ein harziger Ast in einem Lagerfeuer. In rascher Folge stiegen nun weitere Fragmente im Denken des Mädchens auf, so als kämen sie nicht von außerhalb, sondern aus ihrem eigenen Geist. ›Langes Schweigen … Mut und Dummheit … erloschenes Bündnis … Sühne der Schuld … Sprosstöter … Sprosstöter … Sprosstöter …‹
Die Hitze des Feuers schien weiter
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