Götterschild
durch diese verrückte Stadt zu spazieren.«
»Du magst mich für dumm halten«, erwiderte Selira gereizt, »aber ich habe ja schon mehrmals versucht zu erklären, dass es mir sehr wichtig ist, mein Dorf zu finden. Ich lasse mich nicht abschrecken.«
»Aber es muss doch irgendeinen anderen Weg geben«, unternahm Rai einen weiteren verzweifelten Versuch, die Xelitin umzustimmen. »Sich in Kersilon ohne Begleitung auf Spurensuche zu begeben, halte ich für die schlechteste aller Möglichkeiten.«
»Rai, bitte!«, fuhr sie ihn an. »Lass mich endlich zufrieden! Es ist meine Entscheidung und ich habe es endgültig satt, mich immerzu vor dir rechtfertigen zu müssen. Ich werde jetzt gehen. Leb wohl.« Ohne sich noch einmal umzublicken, bog Selira um das nächste Häusereck und verschwand aus Rais Blickfeld.
Der kleine Tileter stand da wie in Bronze gegossen. Als Meatril ihm die Hand auf die Schulter legte, fuhr er zusammen.
»Sie wollte es so«, sagte der Ecorimkämpfer ruhig. »Du musst ihren Wunsch respektieren, auch wenn es dir nicht gefällt. Sie kann auf sich selbst aufpassen, glaub mir.«
Rai trottete wie in Trance hinter seinen beiden Gefährten her. Jetzt war Selira fort – allein. Dabei wäre er für sie in die Zwischenwelt gegangen und wieder zurück, wenn sie ihn darum gebeten hätte. Aber die schöne Etecrari war zu stolz, um zu bitten. Er musste an Belenas Worte denken, dass er schon »das Richtige« tun werde und dass Selira sich glücklich schätzen könne, ihn an ihrer Seite zu haben. Das Richtige wäre in diesem Fall wohl, der Xelitin irgendwie bei ihrer Suche zu helfen, überlegte er. Aber sie hatte ja keine Hilfe annehmen wollen, zumindest nicht von ihm.
Er starrte trübsinnig geradeaus. Wenn er es genau bedachte, dann hatte er ihr eigentlich niemals wirklich seine Unterstützung angeboten. Er hatte nur ständig ihre Entscheidungen hinterfragt und sie von ihrem eingeschlagenen Weg abzubringen versucht. Das war keine Hilfe, das war … Bevormundung. Warum wurde ihm das jetzt erst klar?
»Meatril, Targ, ich muss Selira finden!« Entschlossen hielt er den fragenden Blicken der Ecorimkämpfer stand. »Wäre es möglich, dass ihr auf dem Schiff einige Stunden auf mich wartet? Wirklich – es ist sehr wichtig!«
»Also gut«, erwiderte Meatril schließlich. »Aber bleib nicht zu lange weg, wir sollten zusehen, dass wir diese merkwürdige Stadt baldmöglichst hinter uns lassen. Und wenn du uns brauchen solltest, weißt du ja, wo du uns finden kannst.«
Rai nickte dankbar und sie trennten sich. Das, was Meatril eben auf seine überraschende Bitte geantwortet hatte, war in etwa genau das, was er zu Selira hätte sagen sollen, um ihr unaufdringlich seine Hilfsbereitschaft zu signalisieren. Aber hinterher war man immer klüger. Er konnte nur hoffen, dass sich noch eine Gelegenheit bieten würde, seinen Fehler wiedergutzumachen.
SKLAVE AUF ZEIT
K ersilon erschien Rai ungeheuer groß, verwirrend und laut. Vielleicht lag es nur daran, dass er schon so lange nicht mehr durch die Gassen einer Großstadt gestreift war und er sich an die beinahe dörfliche Übersichtlichkeit von Andobras gewöhnt hatte. Zudem war er selbst zu Hause in Tilet noch niemals in der misslichen Lage gewesen, jemanden ganz Bestimmten unter Tausenden von Menschen finden zu müssen, die sich wie jetzt in Kersilon auf den Straßen herumtrieben.
Rai ging immer noch grob in die Richtung, in der er Selira hatte verschwinden sehen, ohne dabei genau zu wissen, ob sie nicht irgendwo in eine andere Gasse abgebogen war. Er stellte bald fest, dass, je weiter er sich vom Marktplatz entfernte, die Gebäude umso niedriger wurden. Sie glichen – zumindest von der Größe her – den einfachen Bürgerhäusern, die auch in Tilet überall zu finden waren. Die Breite der Straßen nahm ebenfalls stetig ab, so als schrumpfe alles mit wachsender Distanz zum Zentrum auf ein normales Maß zusammen. Immer wieder lagen jetzt kleine Sandhaufen in Häuserecken und am Straßenrand, die wohl der Wind hier abgeladen hatte. Und im Gegensatz zum peinlich sauber gehaltenen Marktplatz schien sich hier in diesem eher bescheiden wirkenden Viertel keiner die Mühe zu machen, dem Sand mit Schaufel und Besen zu Leibe zu rücken.
Rai gab sich alle Mühe, sich in Selira hineinzuversetzen: Sie suchte Hinweise auf den Weg zu ihrem Heimatdorf, hatte aber nicht die geringste Ahnung, wo sie einen entsprechend Ortskundigen aufspüren konnte. Wie würde sie also vorgehen?
Weitere Kostenlose Bücher