Götterschild
hier verschwindest. Das ist kein Trick.«
»Warum lasst Ihr mich gehen?«, fragte Rai argwöhnisch.
»Dein Mut und deine Treue gegenüber deinen Freunden hat mich beeindruckt. Ich finde, das sollte nicht bestraft werden. Außerdem habe ich noch ein paar private Gründe, die dich aber nichts angehen.« Arden grinste recht unköniglich.
Langsam entfernte sich der kleine Eindringling, der sich ihm als Rai vorgestellt hatte, ein paar Schritte und winkte in die Luft. Ganz offensichtlich wollte er damit seinen Flugwolf, der vermutlich nicht allzu weit entfernt durchs Dunkel glitt, auf sich aufmerksam machen.
»Seid Ihr der Bruder von Arton Erenor?«, fragte Rai unvermittelt.
Ardens gönnerhafte Überlegenheit wurde durch diese schlichte Frage augenblicklich zunichtegemacht. Was wusste dieser Fremdling über seinen Bruder? »Das bin ich«, bestätigte er verwirrt, »warum willst du das wissen?«
In diesem Moment senkte sich der große Schatten des Flugwolfes ein weiteres Mal aus dem Himmel herab.
»Er ist ein Freund von mir«, sagte Rai, kurz bevor er von dem Tier bei den Schultern gepackt wurde. »Ich dachte, er wäre vielleicht zu Euch nach Tilet gekommen.«
»Was redest du da?« Arden machte einen Schritt nach vorn, so als wolle er Rai doch noch aufhalten. »Mein Bruder ist tot.«
Doch da war Rai bereits mitsamt der gewaltigen Kreatur, die ihn trug, in der Schwärze des Nachthimmels verschwunden. Der König von Citheon wartete vergebens auf eine Erklärung für die seltsamen Worte des kleinen Eindringlings, den er wohl etwas zu vorschnell hatte entkommen lassen.
DAS GEFIEDER DES IROXINS
M egas erreichte die kreisrunde Terrasse hoch über den Dächern Tilets nach einem mühevollen Aufstieg über eine nicht enden wollende Wendeltreppe. Als er aus der Dunkelheit der beengten Stiege in die warme Nachmittagssonne hinaustrat, die den aufwendig gestalteten Dachgarten an der Spitze des Cittempels in rotgoldenes Licht tauchte, musste er schützend die Hand vor die Augen legen. Die zahllosen Treppenwindungen hatten zudem noch dafür gesorgt, dass er nun von einem leichten Schwindel befallen wurde, was in Megas das beklemmende Gefühl von Wehrlosigkeit aufsteigen ließ. Doch er schüttelte diesen Anflug von verachtenswerter Furcht ebenso wie das Schwindelgefühl im nächsten Augenblick schon wieder ab. Er traf sich gleich mit dem Citarim, dem einzigen Menschen, dessen bloße Gegenwart ihm bereits Unbehagen bereitete, und gerade deshalb musste er unbedingt sein Gesicht wahren. Er holte tief Luft und machte sich klar, dass auch das Leben seiner Heiligkeit Torion Menaurain mithilfe einer scharfen Klinge in nur einem Wimpernschlag beendet werden konnte, wenn es sein musste. Darin unterschied sich der Citarim nicht von all den anderen Existenzen, die Megas bereits ausgelöscht hatte.
Diese Gewissheit half dem Inselherrn von Ho’Neb, die Ruhe zu bewahren, als er nun vor den kleinen, goldgefassten Marmortisch trat, an dem der oberste Kirchenfürst saß. Der Citarim starrte gebannt in einen Vogelkäfig, der vor ihm auf dem Tisch stand. Der Käfig war im Inneren noch einmal zusätzlich mit einem grobmaschigen Korbgeflecht ausgekleidet, sodass man allenfalls schemenhaft erkennen konnte, was sich darin befand. Neben dem Kirchenführer saß ein feister Priester, den Megas bereits als Malun kennen gelernt hatte. Angesichts der Leibesfülle dieses engsten Vertrauten des Citarim versetzte es Megas in Erstaunen, wie dieser durch die enge Wendeltreppe den Aufstieg bis nach hier oben auf den höchsten Punkt der Tempelkuppel bewältigt hatte. Aber Maluns rotes Gesicht, die Schweißperlen auf der Stirn und die an einen Blasebalg erinnernden Atemgeräusche zeugten davon, dass der beleibte Citdiener wohl tatsächlich diesen beschwerlichen Weg auf sich genommen hatte, um seinem Herrn hier oben zu Diensten zu sein.
»Der große Cit sei mit Euch, Megas Arud’Adakin«, begrüßte ihn der Citarim, ohne seine Augen von dem Käfig abzuwenden. »Es war wahrlich an der Zeit, dass Ihr meiner Aufforderung zu einem Treffen nachgekommen seid.«
Diese Eröffnung gefiel Megas gar nicht. Sollte dieser ausgezehrte Gebetebrabbler doch froh sein, dass er, der mächtigste Inselherr von Jovena, überhaupt gekommen war. »Wie Ihr wohl wisst, Eure Heiligkeit«, antwortete er kühl, »hatte ich gewisse Unannehmlichkeiten mit Jorig Techel und seiner Flotte. Es bedurfte einiger Überredungskunst, ihn davon zu überzeugen, dass er in unserer Hauptstadt
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