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Goettersterben

Titel: Goettersterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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haben – Andrej hatte sich keine Mühe gegeben, leise zu sein, und die Verbindungstür zu dem Verschlag, in dem sie schliefen, quietschte noch dazu so erbärmlich, dass es noch auf der Rückseite des Häuserblocks zu hören sein musste – unterbrach aber nicht sein einseitiges Gespräch mit dem Hengst. Und vielleicht, dachte Andrej, war es ja gar nicht so einseitig, wie es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Andrej näherte sich dem Nubier bis auf zwei oder drei Schritte und blieb dann stehen, um ihm einen Moment lang zuzusehen. Seine Hand streichelte Stirn und Nüstern des prachtvollen Tieres, während er ihm zugleich leise Worte in die aufmerksam aufgestellten Ohren flüsterte. Andrej verstand sie nicht, weil der Nubier in einer Sprache redete, die ihm nicht geläufig war – möglicherweise waren es auch nur beruhigende Laute –, aber der Hengst schien ihnen tatsächlich zuzuhören. Seine Ohren zuckten aufmerksam, und dann und wann ließ er ein leises Schnauben hören oder scharrte mit dem Vorderhuf, als versuche er dem Nubier zu antworten. Es war nicht das erste Mal, dass Andrej es beobachtete, aber ihm war noch nie aufgefallen, wie tief das Vertrauen zu sein schien, das Abu Dun und den riesigen Hengst verband.
»Du liebst dieses Tier sehr, nicht wahr?«, fragte er leise.
»Mehr als die meisten Menschen, die ich kennengelernt habe«, antwortete Abu Dun, ohne sich zu ihm umzudrehen. »Es würde mich nie verraten, weißt du? Und es würde mich niemals im Stich lassen.«
Andrej fragte sich flüchtig, ob er sich den sonderbaren Unterton, der in diesen Worten mitschwang, nur einbildete, verfolgte den Gedanken aber nicht weiter, sondern machte einen weiteren Schritt, hielt dann aber inne, als der Hengst den Kopf hob und nervös mit den Vorderhufen zu scharren begann. Abu Dun legte ihm rasch die Hand auf die Nüstern und gab ein paar beruhigende Laute von sich, die fast wie das Schnurren einer großen Katze klangen. Das Pferd beruhigte sich augenblicklich, behielt Andrej aber misstrauisch im Auge. Der Hengst hatte Andrej nie leiden können … aber wenn er es recht bedachte, duldete er außer Abu Dun keinen Menschen in seiner Nähe.
»Es könnte sein, dass wir ihn zurücklassen müssen«, sagte er zögernd.
Abu Dun schwieg.
»Es wäre immerhin möglich, dass wir die Stadt nicht auf dem Landweg verlassen.«
Abu Dun schwieg noch immer, aber der Blick des Hengstes wurde nun vorwurfsvoll, und einen Moment lang fragte sich Andrej, ob das Tier seine Worte vielleicht verstanden hatte.
Was für ein Unsinn.
Andrej wartete einen Moment lang – vergeblich – darauf, dass Abu Dun das immer unbehaglicher werdende Schweigen brach, zuckte schließlich nur mit den Achseln und beschloss, erst einmal nach draußen zu gehen und sich zu waschen. Vielleicht halfen ja einige Handvoll kaltes Wasser im Gesicht, die letzten Spinnweben des Schlafs zu vertreiben und wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
Die Sonne war gerade erst aufgegangen, und ihre beinahe noch waagerecht einfallenden Strahlen erreichten den Innenhof noch nicht wirklich. Dennoch war Andrej allein das Wissen um ihr Vorhandensein schon unangenehm. Er senkte den Blick, hielt nach dem Wassereimer vom vergangenen Morgen Ausschau und stellte wie erwartet fest, dass sich niemand die Mühe gemacht hatte, ihn fortzuschaffen. Das Wasser musste mittlerweile mehr als nur abgestanden sein, aber er hatte ja schließlich auch nicht vor, es zu trinken. Rasch ging er zu dem Eimer, der noch an derselben Stelle stand wie gestern, ließ sich davor auf die Knie sinken, tauchte die Hände in das eiskalte Wasser … und erstarrte.
Diesmal war es kein Gespenst, dessen vermeintlicher Anblick seinen Atem stocken ließ, sondern der seines eigenen Gesichts.
Andrej schloss die Augen, zwang sich, so lange zu warten, bis sich das Wasser wieder beruhigt hatte, und sah dann noch einmal hin.
Der mit Wasser gefüllte Eimer war ein vielleicht noch erbärmlicherer Spiegel als am vergangenen Morgen, als es wenigstens hell gewesen war, aber er reichte allemal aus, um Andrej erkennen zu lassen, dass sein linkes Auge und seine Schläfe unversehrt waren.
Mehr überrascht als erschrocken hob er die Hand und tastete mit den Fingerspitzen nach seiner Schläfe. Der erwartete Schmerz blieb aus, und Andrej registrierte erst jetzt und im Nachhinein, dass auch sein Sehvermögen wieder mit gewohnter Schärfe funktionierte.
Seltsam – er sollte erleichtert sein. Aber er war es nicht. Nach bald vier Tagen, in denen die

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