Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Goettersterben

Titel: Goettersterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
Vom Netzwerk:
Das allein war nichts Außergewöhnliches – jeder machte Fehler, auch Abu Dun und er –, aber es war nicht seine Art, solche Fehler zu begehen. Hatte er sich ernsthaft eingebildet, Loki wäre so dumm? Und würde nicht jeden Vorteil nutzen, den Andrej ihm leichtfertig gewährte? Während er dabei zusah, wie das Blut versiegte und die Haut ebenso lautlos und schnell (und schmerzhaft) wieder zusammenwuchs wie die Knochen darunter, versuchte er seine Gedanken zu ordnen.
Er veränderte sich, schneller und radikaler, als er selbst es für möglich gehalten hatte. Der Vampyr in ihm war erwacht, und er wurde mit jedem Atemzug stärker. Und es machte ihm nicht einmal etwas aus.
Warum auch? Er hatte das Ungeheuer, das wie ein dunkler Bruder tief in seiner Seele lauerte, schon einmal besiegt, und damals war er weit jünger, schwächer und vor allem unerfahrener gewesen. Er würde es auch diesmal wieder schlagen – nachdem er seine Kräfte genutzt hatte, um Loki zu besiegen.
Doch dazu musste er erst einmal an ihn herankommen. Andrej ballte die Hand so heftig zur Faust, dass seine Gelenke knackten, lauschte in sich hinein und stellte fest, dass er sich nicht nur vollkommen von der Verletzung erholt hatte, die ihm der Heckenschütze zugefügt hatte, sondern dass seine Kräfte auch gewachsen waren. Er fühlte sich nicht nur stark, er fühlte sich unbesiegbar … auch wenn er wusste, dass dieses Gefühl täuschte. Wieder sah er zu dem alten Festungsturm hin. Das Tor war wieder geschlossen und die beiden Wachtposten ins Innere des Gebäudes zurückgekehrt, sodass er nur noch einen bedrohlichen schwarzen Schatten wahrnahm. Auch die Präsenz des Vampyrs war nicht mehr zu spüren, ebenso wie die Abu Duns. Einen Moment lang dachte er darüber nach …
Nein. Er führte den Gedanken nicht einmal zu Ende. Er wusste weder, was dieses Gebäude wirklich war, noch wie es in seinem Inneren aussah und was dort auf ihn wartete. Er brauchte Informationen, vorher konnte er nichts für Abu Dun tun.
Und ein Versteck.
Tief versunken in seine Gedanken, hätte er die Schritte um ein Haar zu spät bemerkt. Erst im letzten Moment wurde ihm klar, dass sich eine weitere Patrouille näherte. Hastig glitt er in eine Mauernische, presste sich mit angehaltenem Atem in den Schatten und wartete ab, bis die beiden Männer vorübergegangen waren. Hätten die beiden Männer auch nur im Schritt gezögert, hätte er sie getötet. Und er fühlte sich bei diesem Gedanken nicht einmal schuldig.
Mehr durch Zufall als alles andere fand er den Rückweg zum Pier sofort und ohne sich in dem Labyrinth aus verwinkelten Gässchen und halb verfallenen Gebäuden zu verirren … aber der Weg hatte etwas Gespenstisches. So sehr der Hafen von Cádiz tagsüber auch vor Leben und Aktivität brodelte, so geisterhaft still war es jetzt. Dieser Teil des Hafens war sehr alt und vermutlich verlassen; schon vor Jahren oder auch Jahrzehnten von seinen Bewohnern auf- und dem Verfall anheimgegeben. Dabei mussten diese Häuser und Straßen einst einen prachtvollen Anblick geboten haben. Die Architektur war größtenteils maurisch und legte Zeugnis von einer Kultur ab, die vielleicht im Gefolge von Eroberern gekommen war, dieses Land aber dennoch zu einer zivilisatorischen und kulturellen Blüte gebracht hatte, die es seither nie wieder erreicht hatte und vielleicht auch nie wieder erreichen würde.
Ob es wirklich noch Zufall war, dass er ausgerechnet in Höhe der EL CID wieder auf den Pier hinaustrat, darüber dachte er nicht nach.
Das Monstrum ragte nicht nur wie ein Berg in der Nacht über ihm auf, sondern beherrschte den gesamten Hafen und ließ selbst die gewaltigen Linienschiffe in seiner Nachbarschaft wie Spielzeuge erscheinen. Nicht ein einziges Licht brannte an Bord des Schlachtschiffes, und Andrej hörte auch nicht den geringsten Laut, obwohl er etliche schattenhafte Gestalten ausmachte, die an Deck patrouillierten. Es war, als ob sich das Schiff nicht nur seinen Blicken, sondern allen seinen Sinnen entzogen hatte, als wäre es nicht wirklich Teil dieser Welt, sondern nur der Schatten von etwas viel Größerem und unendlich Bösem, dass hinter den Mauern der Wirklichkeit lauerte. Andrej schüttelte den Kopf. Was für ein kindischer Gedanke! Seine Situation war auch so schon kompliziert genug, ohne dass er anfing, Gespenster zu sehen. Dieses Schiff war möglicherweise die gewaltigste Vernichtungsmaschine, die jemals gebaut worden war, doch nicht mehr. Trotzdem spielte er einen Moment

Weitere Kostenlose Bücher