Göttersturz, Band 1: Das Efeumädchen (German Edition)
heulte zwischen den Mauern der Festung entlang und wehte davon in die mondlose Nacht. Im unteren Areal brannte keine einzige Fackel. Nur aus den Gärten rund um den Efeuturm stieg Flammenschein auf.
»Corellius Adanor?«, brummte jemand neben ihm.
Er zuckte zusammen und wandte den Kopf.
Gleich neben der Tür lehnte ein wahrer Koloss von einem Mann an der Turmwand. Besonders groß war er nicht; er reichte Corellius höchstens bis zur Brust. Er war allerdings so breit wie ein Fass, mit stummeligen Armen und Beinen. Der Bart hing ihm bis zu den Knien.
»Genau der«, entgegnete Corellius. »Seid Ihr Mellio?«
»Das will ich doch meinen.«
Das Gesicht des Mannes konnte Corellius in dieser Dunkelheit nicht erkennen. Jedoch sah er nur zu gut das Gewirr aus schwarzen Fäden, das seinen Bart durchzog.
Mellio nippte an einem Becher. »Grässliches Zeug, dieser Tee.«
»Ein wahres Wort.« Corellius grinste. Vielleicht war das einmal ein Wissenschaftler, mit dem er sich verstehen würde. »Sagt, würdet Ihr mir einige Fragen beantworten?«
Mellio lachte, was etwa dieselbe Lautstärke wie ein Erdbeben hatte. »Na, das kommt ganz auf die Fragen an!«
»Was geht da oben am Efeuturm vor sich?«
»Das alte Ritual«, antwortete Mellio. »Die Verkündung, welches der Efeumädchen ausgewählt wurde.«
»Wie viele Mädchen leben eigentlich hier?«
»Ich bin Professor an der Universität in Sichelstadt. Ich bin auch erst seit zwei Tagen hier und weiß nicht viel mehr als Ihr über die Verhältnisse dort. Jedoch würde ich schätzen, dass es ungefähr zwanzig sind.«
»Kaum vorstellbar«, murmelte Corellius. »Zwanzig Mädchen, die ausgebildet werden, um zu sterben. Wäre eine von ihnen meine Tochter, würde ich alles tun, um sie dort rauszuholen.«
Wieder erscholl Mellios Lache und es schien Corellius, als würde der Boden durch sie vibrieren. »Eure Worte ehren Euch, jedoch glaube ich, dass die Eltern der Efeumädchen nicht so hohe Ideale haben wie Ihr. Eine Tochter als Efeumädchen zu haben, ist eine Sache des Prestiges. Allerdings dürfen es nur Erstgeborene sein« Mellio fuhr sich über seinen Bauch. »Deshalb setzen manche Staatsbeamte sogar heimlich ihre erstgeborenen Söhne aus, damit ihre Tochter die Möglichkeit hat, hier aufgenommen zu werden.«
»Das ist krank.«
»Wem sagt ihr das?« Mellio schlürfte Tee. »Aber ich muss mich da ganz ruhig verhalten. Fast wäre ich ja sogar selbst Teil dieses Apparats geworden.«
»Was meint Ihr?«
»Vor zweiunddreißig Jahren haben Voxlar und ich gemeinsam um die Stelle des Obersten Tutors kandidiert.«
»In Eurem Bart sehe ich mehr Schwarz als in dem von Voxlar. Wieso seid Ihr es nicht geworden?« Neugierig kratzte sich Corellius an seinem Kinnbart.
»Ganz einfach: Voxlar hatte die besseren Beziehungen«, sagte Mellio mit einer Spur Wehmut in der Stimme. »Als ob es in der Republik um so etwas wie Eignung oder Gerechtigkeit gehen würde. Manchmal frage ich mich, ob wir unter den Alten Monarchen jetzt nicht besser dran wären. Da wurde wenigstens nicht verheimlicht, dass die Bürger belogen und betrogen wurden.«
Corellius verlagerte sein Standbein. »Solche Worte sind Staatsverrat. Männer sind schon wegen weniger gevierteilt worden.«
»Trotzdem sage ich sie Euch gegenüber ohne Bedenken.« In Mellios Augen blitzte es spitzbübisch auf. »Ich glaube, bei Euch habe ich es nicht gerade mit jemandem zu tun, der dem Ewigen Konzil so viel zugeneigter ist als ich.«
Corellius legte den Kopf in den Nacken und lachte. »Da mögt Ihr tatsächlich Recht haben.« Er sah wieder auf Mellio. »Meine Unterhaltung mit Voxlar gestern Mittag nahm ein eher abruptes Ende. Er konnte mir nicht alle meine Fragen beantworten.«
»Das sieht dem arroganten Bastard ähnlich«, sagte Mellio zähneknirschend. »Schon als wir gemeinsam studierten, hielt er sich für belesener und intelligenter als alle anderen Studenten. Solltet Ihr also noch Fragen haben, Corellius, und seien sie noch so oberflächlich, stellt sie mir ruhig.«
»Gut. Ich habe eine wirklich sehr dämliche Frage.« Er zupfte an seinem Unterhemd herum. »Wer oder was ist Orchon, der Eine, genau? Niemand gab mir darauf bisher eine zufriedenstellende Antwort.«
»Ah, die großen, alten Fragen.« Mellio verlor sich für einige Momente in der Betrachtung der Sonne, die im Osten emporstieg und ihr Licht über die Westebenen schleuderte. Dann fuhr er fort: »Wer sind wir? Woher kommen wir? Und, die alles entscheidende Frage, wer ist
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