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Göttertrank

Göttertrank

Titel: Göttertrank Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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oben. Und später sehen wir weiter.«
    MacPherson hatte wirklich ein geräumiges, einigermaßen gemütlich eingerichtetes Zimmer. Er half mir, die verdreckten Stiefel auszuziehen, und wickelte mich in eine rotkarierte Decke. Ich rollte mich vor dem Kamin auf dem abgetretenen Teppich zusammen und schlief sofort ein.
     
    Als ich mit steifen Gliedern erwachte, wusste ich zunächst nicht, wo ich mich befand. Aber immerhin war mir warm, und mein Kopf fühlte sich einigermaßen klar an. Ich befreite mich von der Decke und sah aus dem Fenster in die trübe Abenddämmerung.
    Posthalterei, ging es mir durch den Kopf. Im Hof stand eine hoch beladene Dilligence abfahrbereit. Der Kutscher verhandelte gestenreich mit einem Pferdeknecht, eine Frau im dunkelgrünen Reisemantel hielt einen kleinen Jungen an der Hand, der liebend gerne zu den Pferden gelaufen wäre, und zwei Herren kamen, mit zusammengerollten Zeitungen unter dem Arm, auf das Gespann zu. Vor einem halben Jahr war ich genau hier eingetroffen, zwar erschöpft und erschüttert, doch noch voll Hoffnung. Ich schüttelte den Kopf. Komisch, dass ich jetzt wieder hier gelandet war. Als ich mich vom Fenster abwandte, fiel mein Blick auf den Spiegel an der Wand.
    Erschrocken zuckte ich zurück. Doch dann wagte ich einen zweiten Blick. Eine Fremde sah mir entgegen. Eine gealterte, magere Frau mit fahlem Teint und fettigen, ungekämmten Haaren. Dunkle Ringe umgaben meine Augen, und meine aufgesprungenen Lippen wirkten blass und rissig. Deutlich traten meine hohen Wangenknochen hervor, und ein Schmutzfleck klebte auf meinem Kinn. Ja, ich hatte mich seit Wochen völlig gehen lassen.
    Jemand öffnete leise die Tür.
    »Ah, du bist wach geworden.«
    »Leider.«
    »Die Magd bringt dir eine Wanne und heißes Wasser. Und ich habe dir ein paar anständige Kleider gekauft.«
    »Warum, Mac?«
    »Weil ich dich schon lange kenne.«
    Die Magd polterte mit der Zinkwanne herein und schob sie vor den Kamin, der Reisende legte eine Schachtel mit Kleidern auf das Bett.
    »Ich lasse dich alleine, Amara. Die Magd geht dir zu Hand, wenn du Hilfe brauchst. Du findest mich unten. Dort reden wir.«
    Es war nur eine Sitzbadewanne, aber mit dem heißen Wasser wusch ich mich gründlich und ließ mir von der Magd helfen, meine langen Haare auszuspülen. Entsetzt sah ich an mir hinab, als ich das Handtuch an mich nahm. Mein Gott, war ich mager geworden! Jede Rippe konnte man erkennen, und die Hüften standen regelrecht eckig hervor. Entsetzt von meinem eigenen Aussehen zog ich die Wäsche, Bluse, Unterrock und den einfachen grauen Rock an. Dabei dachte ich an den Reisenden. Bei Mutters Hochzeit mit Fritz Wolking hatte ich ihn das erste Mal getroffen. Danach tauchte er alle vier, fünf Monate auf und nahm unsere Bestellungen an Kolonialwaren entgegen.
    Ich ergriff die Bürste und stellte mich, während ich die Haare entwirrte, erneut meinem Spiegelbild. Was sah der Reisende in mir, dass er bereit war, mir so uneigennützig zu helfen? Bestimmt nicht die adrette Bäckerin, nicht die freundliche Serviererin und gewiss nicht eine Frau, die ihm das Bett wärmte. Oder er hatte sehr seltsame Neigungen. Aber das konnte ich nicht glauben. Mac war schon vor Jahren ein Bestandteil meines Lebens geworden. Er machte nicht nur seine Geschäfte mit uns, sondern brachte auch immer allerlei interessante Neuigkeiten mit, Warenproben und Hinweise auf neue geschmackliche Moden, ausgefallene Rezepte und sogar neuartiges Handwerkszeug. Früher hatte ich nicht viel darüber nachgedacht, aber inzwischen hatte ich mitbekommen, dass es ein ganzes Netz derartiger Handlungsreisender gab, die Bestellungen von Einzelhändlern und Endverbrauchern auf ihren Routen sammelten und an die großen Kontore in den Hafenstädten weitergaben. MacPherson reiste immer auf demselben Weg von Hamburg nach Bremen, von dort Richtung Süden nach Köln, dann gen Osten über Hannover und Magdeburg weiter bis nach Berlin. Von der Hauptstadt führte ihn sein Weg zurück nach Hamburg. Sein Aufenthalt in Elberfeld war also so ungewöhnlich nicht.
    Plötzlich schämte ich mich, von ihm so heruntergekommen aufgeklaubt worden zu sein. Andererseits – vielleicht wusste er Neuigkeiten. Vielleicht gab es sogar eine neue Hoffnung, nach Berlin zurückzukehren. Nachdenklich flocht ich die feuchten Haare zu einem festen Zopf, und mit frischerem Mut als seit Wochen stieg ich die Treppe hinunter in den Schankraum. Ich erkannte seinen wilden roten Schopf sofort hinter

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