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Göttertrank

Göttertrank

Titel: Göttertrank Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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dringend warnen. Doch immer mehr Tote und Verwundete türmten sich vor ihm auf, schrien vor Schmerzen, röchelten im Todeskampf, bluteten aus klaffenden Wunden. Und der, zu dem er gelangen wollte, rückte in immer weitere Ferne. Wenn Alexander erwachte, war sein Kopfkissen feucht von Tränen. Doch er schwieg darüber und verbannte rigoros die Erinnerungen an den Krieg und auch die an die schmutzige Hinterhofwohnung aus seinem Denken. Es half ihm, dass Harvest keine Bedenken kannte, seinen jungen Adlatus alle möglichen Arbeiten verrichten zu lassen, ob Stiefelputzen, Wohnung fegen, Hemden bügeln, kochen oder Einkäufe machen – das alles nahm Alexander gerne in Kauf. Dafür durfte er nämlich eine winzige Mansardenkammer sein Eigen nennen, besaß neue, anständige Kleider und wurde vor allem in die Geheimnisse der Maschinentechnik eingeweiht. Er trottete beständig mit einem Klemmbrett und Stift hinter dem Ingenieur her, reichte ihm, wenn notwendig, Werkzeuge zu, durfte später selbst kleinere Reparaturen ausführen. Harvest verhielt sich üblicherweise wortkarg, doch Alexanders Fragen beantwortete er ausführlich. Der Junge ahmte ihn in vielem nach, und allmählich verschwand auch der üble Dialekt aus seiner Sprache, den er sich im Zusammensein mit Wally und seinen Leuten angewöhnt hatte.
     
    Zwei Jahre ging das Zusammenleben gut. Alexander war inzwischen fünfzehn und zu einem kräftigen jungen Mann mit klarem Gesicht und ruhigem Auftreten herangewachsen. Er hatte seine Aufgabe und Bestimmung gefunden und erwog, als Lehrling in eines der großen Maschinenbau-Unternehmen einzutreten. Harvest reagierte zurückhaltend, als er diesen Vorschlag machte, und war drei Tage lang noch wortkarger als sonst.
    Alexander wurde ungeduldig. Er sagte sich, dass der Ingenieur vermutlich überlegte, wie er ihn von dem Vorhaben abbringen konnte. Denn schließlich war er nicht nur sein technischer Assistent und Handlanger, sondern auch Kammerdiener und Hausknecht in einem. Er nahm sich vor, sollte Harvest sich weiter in Schweigen hüllen, seine Vorstellungen am kommenden Sonntag sehr deutlich zu machen, obwohl die Unterstützung eines gestandenen Ingenieurs seinem Vorhaben nützlich wäre – schließlich konnte er ihm mit seinem Renommee als Techniker Türen öffnen, an die er ohne Hilfe vergebens klopfen würde. Aber wenn es hart auf hart ging, würde er auch einen anderen Weg finden.
    Am Samstagmorgen wanderten die beiden schweigend durch den Frühnebel zur Weberei, als Harvest plötzlich stehen blieb und Alexander die Hand auf die Schulter legte.
    »Ja, Junge. Es ist an der Zeit. Ich will sehen, was ich für dich tun kann. Halten kann ich dich ja nicht.«
    Verdutzt über diese letzte Formulierung und erleichtert, ohne Konflikt sein Ziel erreicht zu haben, nickte Alexander und folgte dem Ingenieur schweigend zum Maschinenhaus.
    Hier herrschte rege Betriebsamkeit, die Kohleschipper schaufelten kräftig Brennstoff in den Ofen, um das Wasser im Kessel auf Betriebstemperatur zu bringen, damit der Dampf anschließend in den Zylinder strömen konnte.
    Alexander bemerkte als Erstes die große Lache unter dem Dampfkessel. Ein Blick bestätigte seine Befürchtung – der Füllstandsanzeiger am Kessel war bedrohlich abgesunken. Er wollte sich zu Harvest umwenden, um ihn zu informieren.
    In diesem Augenblick begann einer der Maschinisten, Wasser in den Kessel zu pumpen.
    »Nicht, du Idiot!«, schrie Alexander auf und hechtete im letzten Moment zur Tür hinaus.
    Kaltes Wasser traf auf rotglühendes Eisen.
    Der Dampf dehnte sich schlagartig aus.
    Die Detonation vernichtete die gesamte Umgebung. Metallstücke, Mauerbrocken, brennende Kohle, Glasscherben, Papierfetzen und gesplittertes Holz flogen wie Geschosse durch die Gegend. Sie bohrten sich in Balken und Ziegel und menschliches Fleisch. In der Rückwand des Maschinenhauses entstand ein langer Riss. Mit einem Krachen stürzte das Dach ein.
     
    Unter den Trümmern fand Alexander später seinen Lehrer und Freund. Er erkannte ihn nur noch an den Stiefeln, die er am Abend zuvor eigenhändig geputzt hatte.
    Einer seiner Albträume war Wirklichkeit geworden.

Abschied und Neubeginn
    Das hat mein jung Herzelein
So frühzeitig traurig gemacht.
Morgen muß ich fort von hier
Und muß Abschied nehmen.
    Clemens Brentano
     
     
    Ich verlebte eine glückliche Kindheit auf Gut Evasruh im Mecklenburgischen. Als ich dem Gängelband entwachsen war und auf eigenen Füßen laufen, hopsen und klettern

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