Göttertrank
betreuen. Doch nur Julius bedurfte in den ersten Jahren ihrer Aufsicht und Erziehung. Inzwischen war auch er ein Schuljunge und im Internat untergebracht. Nanny hingegen – ihren richtigen Namen hatte sie wohl selbst schon vergessen – war mit ihren sechzig Jahren noch immer eine agile Frau, auch wenn ihr inzwischen ein Hüftleiden einen Stock aufzwang. Sie kümmerte sich gerne um uns Kinder auf dem Gut, und in mir fand sie eine begeisterte Zuhörerin all ihrer vielen Märchen, Gedichtchen und Lieder. Als ich noch klein war, hatte ich gar nicht gemerkt, dass Nanny Englisch mit mir sprach, ich lernte die Worte, die sie verwendete, genauso rasch wie die deutschen meiner Mutter. Mit sieben Jahren konnte ich die beiden Sprachen sehr wohl unterscheiden, doch war die eine mir so geläufig wie die andere. Wenn draußen der Winterwind an den Läden rüttelte, lauschte ich hingebungsvoll den phantastischen Abenteuern von König Arthurs Rittern, den Geschichten von Feen, Banshees und Leprechauns, von Seehundmännern, die ihren Pelz, und Schwanenfrauen, die ihr Federkleid verloren, von tanzenden Steinen und magischen Schwertern.
Was ich in diesen von flackerndem Kaminfeuer erhellten und von dem süß duftenden Bienenwachs der Kerzen durchzogenen Stunden lernte, war viel mehr als das Einmaleins, das der pedantische Dorfschullehrer mir beibrachte. Es lehrte mich den Glauben an Wunder und die Macht der Träume. Nanny fügte ihre eigene Prise Weisheit hinzu und weckte in mir das Vertrauen darauf, dass in mir selbst der Zauber schlummerte, der Wünsche wahr werden ließ.
Einmal, kurz vor Weihnachten war es, da traute ich mich, der gütigen alten Frau die Frage zu stellen, die mich schon lange bewegte. Denn ich war damals, wie viele Kinder, in der Lage, hinter die Masken der Erwachsenen zu blicken. Und Lady Henriettas stets gleichbleibende Heiterkeit schien mir oft von Kummer durchzogen.
»Nanny, warum lächelt Lady Henrietta nie mit den Augen? Ist sie traurig?«
»Ja, Kind, sie ist traurig«, antwortete Nanny, die auf meine Frage nicht besonders überrascht reagierte. »Wir sprechen nie darüber, aber du hast es dennoch bemerkt, und darum schulde ich dir wohl eine Erklärung. Vor einigen Jahren hat Lady Henrietta einen großen Verlust erlitten. Ihr ältester Sohn ist gestorben, und das hat sie – und auch der Herr Graf – nie ganz verwunden. Um diese Wunde nicht ständig wieder aufzureißen, schweigen wir alle darüber.«
Große Verluste hatte ich bis dahin noch nicht erlebt, doch ich erinnerte mich daran, wie leid es mir jedes Mal tat, wenn Julius nach den Ferien wieder abreiste. Also nickte ich und verstand ein bisschen mehr als zuvor die stille Würde der Gräfin.
Dann aber kam ein Abschied, der auch mich mit tiefer Traurigkeit erfüllte.
Wir verließen Evasruh und zogen im Herbst, der sich an einen wie mit Gold durchwebten Sommer anschloss, nach Berlin um, da der Graf in der Hauptstadt unabkömmlich war und Präsentationsaufgaben wahrzunehmen hatte.
Obwohl die große Stadt, das schöne Haus, die neue Schule meine Begeisterung weckten, vermisste ich doch schmerzlich das freie Leben auf dem Gut in Mecklenburg und vor allem Nanny mit ihren Liedern und Geschichten.
Im Stadtdomizil beschäftigten die Massows natürlich die Berliner Dienerschaft, die Bediensteten von Evasruh blieben, bis auf Lady Henriettas Zofe und dem Leibdiener des Grafen, auf dem Gut. Nur meine Mutter hatte die gnädige Frau gebeten, mit in die Stadt zu kommen. Ihre Backkünste und Fertigkeiten in der Herstellung von Süßspeisen, so behauptete sie, überträfen alles, was der Koch in der Leipziger Straße zu bieten hatte.
»Ich werde dafür sorgen, dass Ihre Tochter eine gute Ausbildung erhält«, hatte Lady Henrietta hinzugefügt, was meine Mutter dankbar annahm. Ich besuchte also den Unterricht in einer Schule in der Markgrafenstraße, die vor gut zehn Jahren auf Wunsch der hochverehrten, viel zu früh verstorbenen Königin Luise von Preußen gestiftet worden war. Es war keine höhere Bildungsanstalt wie jene privaten Mädchenschulen, in denen den Elevinnen Konversation, gesellschaftlicher Schliff und feine Handarbeiten vermittelt wurden, sondern eine Gesindeschule, in der wir Mädchen handfeste Hauswirtschaft beigebracht bekamen und auf den späteren Beruf vorbereitet wurden. Ich lernte gerne, und nach dem Unterricht nahm ich weiter Aufgaben in der Küche wahr. Leider hatte es dort gleich von Beginn an Reibereien mit dem regierenden Herrscher in
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